Jürgen Habermas sprach in den frühen 1980er Jahren von einer „Erschöpfung der utopischen Energien“, die mit der „Krise des Sozialstaates“ einherginge. Seither wurden viele sozialstaatliche Errungenschaften demontiert. Die von konservativen Regierungen unter Reagan, Thatcher und Kohl begonnenen neoliberalen „Strukturanpassungen“ wurden in unterschiedlicher Akzentuierung indes auch unter Clinton, Blair und Schröder fortgeführt. Statt zum Ausbau der Demokratie kam es auch unter sozialdemokratischer Regierungsführung zum Abbau öffentlicher Leistungen, zur Vertiefung sozialer Ungleichheiten und sich verbreitender Prekarisierung. Die enormen Produktivitätsgewinne aus Automation, Digitalisierung und Globalisierung wurden weitestgehend von Unternehmen einkassiert. Oligopolistische Großkonzerne wie Amazon, Facebook, Google und Microsoft durften sich sogar über Jahre hinweg ernsthafter Besteuerung entziehen. Zwar hängt die jüngste Welle von Wahlerfolgen rechtsgerichteter Demagogen mit autoritär-populistischen Programmen von einer Vielzahl je nach Land in der Gewichtung variierender Faktoren ab, ermöglicht worden ist sie aber insbesondere von einem eklatanten Mangel an demokratischen Visionen.
Nancy Fraser sieht den „progressiven Neoliberalismus“ á la Clinton an seinem Ende. Die entstehende Lücke wird jetzt von Rechtspopulisten wie Trump gefüllt. Mit dem Verfall der Sozialdemokratie in Deutschland geht der Aufstieg der AfD einher. In Österreich ist die entsprechende Tendenz noch deutlicher. Die Demokratie ist in Gefahr. Um der schleichenden Übernahme rechtsgerichteter Positionen und der Ausgrenzung vermeintlich kulturbedrohender MigrantInnen entgegenzutreten, bedarf es einer Erneuerung utopischer Energien. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt ermöglicht heute schon die Abschaffung von Hunger und erlaubt ein enormes Maß an freier Zeit; es gilt, den Nutzen gerecht zu verteilen. Habermas sah den Ausweg im Paradigmenwechsel von der Arbeits- zur Kommunikationsgesellschaft. Es kommt darauf an, die Verständigungs- und Steuerungsverhältnisse zu demokratisieren. Neue Technologien bieten neben Risiken auch Chancen, wie dies insbesondere bei den neuen digitalen Formationen der Fall ist. Es geht dabei weniger um die bloße Teilhabe am Massenkonsum von Unterhaltungselektronik, sondern vielmehr um die Teilnahme an gesellschaftlicher Gestaltung, zu denen u.a. Themen wie Netzneutralität, Selbstbestimmung, Überwachung und Zugang zu Big Data gehören.
Utopien sind mit dem Missbrauch durch totalitäre Regime in Verruf geraten. Ohne die Gefahren utopischer Rhetorik zu unterschätzen, scheint es heute einen geradezu dringenden Bedarf an neuen politischen Ansätzen zu geben. Zwar kann sich eine politisierte Soziologie so stark ideologisieren, dass sie ihre empirische Erdung verliert, aber diese Gefahr ist aktuell eher winzig im Vergleich zur drohenden Ohnmacht angesichts einer von desaströsen wirtschaftlichen und militärischen Modellen dominierten Welt.
Im Zuge der Globalisierung rekonfigurieren sich Märkte, Staaten und Gesellschaften, während sich die multi-skalaren Dynamiken der unterschiedlichen Ordnungsebenen wechselseitig intensivieren. Keine Nation, Stadt, Nachbarschaft oder Gemeinde bleibt unberührt. Die Effekte und Erfahrungen sind uneinheitlich und oft gar widersprüchlich. Nie zuvor in der Geschichte gab es so große Wanderungsbewegungen, wobei drohende Umweltveränderungen diesen Trend noch auszuweiten scheinen. Es bietet sich eine reichere kulturelle Vielfalt, aber Mobilität wird auch zur zunehmend bedeutungsvolleren Achse der Ungleichheit. Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien haben dazu beigetragen, die Globalisierung zu beschleunigen. Aber sie verbinden nicht nur, sondern sie entzweien auch. Sie erleichtern den freien Austausch, so wie sie ihn auch verhindern. Neue Formen der Kontrolle, Überwachung und Kriegsführung entstehen.
Deterministische Modelle und militärische Vergeltungslogiken haben sich als zu kurzsichtig, zu teuer und letztlich kontraproduktiv erwiesen gegenüber den Zielen von Frieden und Sicherheit. Nachhaltige Lösungen erfordern tiefere und methodisch offenere Analysen der zugrunde liegenden Probleme. Die Ergebnisse der neuen transnationalen Dynamiken sind nicht das Ergebnis einiger unvermeidlicher Kräfte, sondern sind von der institutionell bedingten, aber reflexiven menschlichen Handlungsfähigkeit gesellschaftlich geprägt, also ein Ergebnis von mehr oder weniger beabsichtigten oder unbeabsichtigten Entscheidungen.
In vielen der heutigen nationalen Soziologien erscheint die Zukunft geradezu spektakulär vernachlässigt. Es drängt sich die Frage auf, ob die harsche Kritik von Arjun Appadurai an der Anthropologie, dass sie über Jahrzehnte hinweg die Zukunft ignoriert habe, nicht auch in ähnlicher Weise auf die Soziologie zutrifft. Im Unterschied zu Business Schools, Design-Fakultäten oder Stadt- und Regionalplanungs-Abteilungen taucht die Zukunftsforschung auf den Lehrplänen soziologischer Institute nur selten auf. Weder im amerikanischen noch im deutschen soziologischen Berufsverband gibt es eine speziell der Zukunftsforschung gewidmete Sektion. Die Gründe für die Vermeidung expliziter Zukunftsbezüge variieren mit den von Land zu Land sehr unterschiedlichen disziplinären Entwicklungspfaden. Jedoch scheint der Gedankengang besonders weit verbreitet zu sein, das die Zukunft schon deshalb kein vernünftiger Untersuchungsgegenstand sein könne, da wir nicht über etwas reden sollten, über das wir nichts wissen könnten.
Diese Position steht im Widerspruch zu der Tatsache, dass schon das alltägliche Leben auf unzähligen Annahmen über die Zukunft aufbaut, seien diese kurzfristige oder langfristige, geringfügige oder weitreichende. Ob wir etwas für möglich oder unmöglich halten, wahrscheinlich oder unwahrscheinlich, wünschenswert oder unerwünscht, hat Konsequenzen. Ansinnen, Erwartung, Entwurf, Hoffnung, Phantasie, Planung, Vision und Vorwegnahme sind inhärente Aspekte zukunftsorientierten menschlichen Handelns.
Der Einsicht in die Notwendigkeit zukunftsorientierten Soziologie folgt jedoch eine Reihe kniffliger Fragen. Wie kann Zukunft überhaupt wissenschaftlich kohärent konzeptualisiert werden? Was sind die fruchtbarsten Methoden und nach welchen Kriterien lassen sich konkurrierende Herangehensweisen beurteilen? Eine Reihe unterschiedlicher theoretischer Ansätze kann hierbei weiterhelfen.
In der Vergangenheit wurde oft vorausgesetzt, dass die Zukunft vorherbestimmt, determiniert oder zumindest in einer bestimmten Richtung fortschreitend und damit mit dem richtigen Ansatz vorhersehbar sei. Während der Gründungszeit der Soziologie schienen religiöse Überzeugungen und teleologische Annahmen der positivistischen Suche nach gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten zu weichen. Denkströmungen von Comte zu Durkheim erschien die Erkenntnis solcher Gesetzmäßigkeiten für die Verwaltung der Gesellschaft durch eine entsprechend gebildete Elite nützlich. Marx teilte ähnliche Grundannahmen, wenn er etwa eine geschichtliche Gesetzmäßigkeit unterstellte, wonach sich der Triumph des unterdrückten Proletariats über die Bourgeoisie notwendig ergeben müsste, obwohl er in seinen empirisch-historischen Schriften erkannte, dass es keine automatischen Formeln gab, sondern viel Raum für kontingentes Handeln. Insbesondere Gelehrte, die aus dem Global Süden stammen oder sich damit befasst haben, wie zum Beispiel Amin, Cardoso, Guha, Quijano, Nederveen Pieterse, Saïd, und Spivak, kritisierten die vorherrschenden Modernisierungsvorstellungen, nach denen die so genannte Dritte Welt in ihrer Entwicklung dem Westen hinterherhinke und nur durch nachahmende Modelle Anschluss finden könne.
Die Loslösung gesellschaftlicher Erfahrung von Erwartung entfesselt theoretische Innovationen, führt aber auch zu radikalisierten Unsicherheiten. Was ist, könnte auch anders sein. Die bestehende Wirklichkeit hätte durch nicht-determiniertes menschliches Handeln auf mehr oder weniger reflexive und mehr oder weniger konfliktartige oder kooperative Weise anders geformt werden können. Dieses Kontingenzbewusstsein wird in der zeitgenössischen Gesellschaftstheorie zunehmend durch die explizite Einbeziehung von sozialer Handlungsfähigkeit und historisch vielfältigen Pfadverläufen thematisiert. Es findet heute seinen Ausdruck insbesondere in der Betonung von Autopoiesis (Luhmann), Kreativität (Joas), Visionen (Boulding) und Vorstellungen (Castoriadis, Taylor).
Die Neuausrichtung der Soziologie auf die Zukunft hin kann auf einer ganzen Reihe von empirischen, analytischen und normativen Ansätzen aufbauen, die von der Erforschung sozialer Interaktionen in kleinsten Mikrowelten bis hin zu den weitreichendsten, sich auf den gesamten Planeten beziehenden Makrotrends reicht, wobei diese Ordnungsebenen typischerweise komplex verknüpft sind. So können zum Beispiel die Fortschritte der Handlungstheorie helfen, positivistische Beschränkungen und instrumentalistische Einengungen zu überwinden. Theorien des kollektiven Handelns und sozialer Bewegungen können helfen, politische Konflikte und die Formulierungen alternativer Visionen von der gesellschaftlichen Entstehungsbasis her zu verstehen. Zeitdiagnostische Ansätze können helfen, einschlägige Trends zu erkennen. Kritische Theorien können helfen, die auf dem Spiel stehenden Wertentscheidungen, verdeckte Interessen und nach sozialen Sektoren hin divergierende soziale Konsequenzen aufzuzeigen.
Drängende Probleme der zunehmenden sozialen Ungleichheit, Menschenrechtsverletzungen, Klimawandel, Umweltzerstörung und die diesen zugrunde liegenden Störungen der Anerkennung, Aufteilung und Steuerung erfordern eine zukunftsorientierte Forschung, die über enge Eigen- oder Geschäftsinteressen hinausgeht und über Grenzen hinweg nachhaltige Alternativen sucht.
Obwohl die jüngste Wirtschaftskrise den seit den 1980er Jahren dominanten Neoliberalismus in Misskredit gebracht hat, konnte die entstandene Lücke noch nicht recht von einer breiteren sozialwissenschaftlichen Perspektive ausgefüllt werden. Neue konzeptionelle Perspektiven und methodische Instrumente sind nötig zur Erforschung möglicher, wahrscheinlicher, vermeidbarer und bevorzugter Zukünfte. Zu den inhaltlich besonders aussichtsreichen Ansätzen zählen u.a. im deutschsprachigen Raum die Debatten um die Postwachstumsgesellschaft, im nordamerikanischen die Ansätze zu „realen Utopien“ und im lateinamerikanischen der Diskurs zum „guten Leben“ (sumac kawsay, bien vivir). Diagnose und Kritik sind Grundlagen, aber die gegenwärtige Konstellation bedarf auch eines darüber hinausgehenden, nach vorn orientierten Denkens. Hartmut Rosa hat auf dem jüngsten Kongress der Europäischen Soziologischen Assoziation in Athen zurecht den Bedarf an „Therapie“-orientierten Forschungsprogrammen betont, während Donatella della Porta und Frank Welz sich in unterschiedlichen Zusammenhängen mit den Einflussmöglichkeiten der Soziologie auseinandersetzten. Das WebForum zum Thema „Zukünfte, die wir wollen“ bietet eine Plattform für Überlegungen auch über Fachgrenzen hinweg. Wenn die Soziologie an Relevanz gewinnen soll, dann muss sie auch eine stärker vorausschauende Orientierung in ihre Agenda aufnehmen und sich mit den von unterschiedlichen sozialen Akteuren imaginierten Zukünften auseinandersetzen.