Das R’Wort oder: (wie) beteiligt sich die deutsche Soziologie an der Analyse rassistischer Morde in Deutschland? (SozBlog 2012, Lutz 2)

Helma Lutz, 11. April 2012, für SozBlog, den Blog der Deutschen Gesellschaft für Soziologie

Die zufällige Entdeckung der gezielten Ermordung von neun Migranten und einer Polizistin durch die Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) hat – ganz im Gegensatz zur Situation in den frühen 1990er Jahren – in Deutschland nicht zu massiven öffentlichen Demonstrationen, Lichterketten u.Ä. geführt. Soziologisch lässt sich das vielleicht als ‚kollektive Schreckstarre‘ deuten oder mit dem Fehlen spektakulärer Bilder erklären – wie etwa die durch Kameras festgehaltene Belagerung des Asylbewerberheims in Hoyerswerda oder Medienbilder verkohlter Wohnhäuser in Mölln und Solingen, in denen Familien und Hausgemeinschaften lebendig verbrannt wurden. Die Macht bzw. Wucht der Bilder sowie die Dichte und enge Zeitfolge von Ereignissen dieser Art, die auf eine weitere Eskalation rassistisch motivierter Aktivitäten schließen ließ, trieb damals viele Menschen auf die Straße und wurde zum Motor eines massiven zivilgesellschaftlichen Engagements. Fast zwanzig Jahre später entstammen die Bilder der Tatorte, an denen gemordet wurde, dem selbstgedrehten Film der Täter und das Monströse daran wird erst durch Erklärung sichtbar; spontane öffentliche Kundgebungen hat es auch diesmal gegeben, allerdings keine Aktivitäten, die mit dem damaligen Umfang und Gewicht – es liefen auch Prominente und PolitikerInnen an der Spitze solcher Demonstrationen – auch nur annähernd zu vergleichen wären.

Ja, es hat eine vielbeachtete Trauerfeier mit politischen SpitzenvertreterInnen (siehe dazu auch den Sozblog von Annette Treibel vom 24. Februar 2012) gegeben, sowie die Einsetzung diverser Untersuchungsausschüsse; und es wird erneut und nachhaltig über Neonazis und ihre (männlichen und weiblichen) Mitglieder sowie über ein NPD-Verbot diskutiert. Dennoch bleibt eine öffentliche Debatte über Rassismus, wie sie von Naika Foroutan (siehe http://www.sueddeutsche.de/politik/morde-der-zwickauer-terrorzelle-ein-angriff-der-uns-allen-gilt-1.1291175) und vielen anderen eingefordert worden ist, bislang aus.

Mich interessiert hier die Frage, welchen Beitrag die Soziologie in Deutschland zu diesem Thema liefern will und kann. Zunächst einmal fällt auf, dass – im Gegensatz zur angelsächsischen Debatte – Rassismus als wissenschaftliches Konzept zur Analyse von Ausgrenzung, Marginalisierung, Diskriminierung und Legitimation für die Ermordung von Menschen zumindest in den zentralen Publikationsorganen der deutschen Soziologie in den vergangenen zwanzig Jahren nicht zu finden ist. Als Forschungsgegenstand verbleibt ‚Rassismus‘ seit vielen Jahren in einem relativ kleinen Kreis von WissenschaftlerInnen,  während der soziologische Mainstream den Begriff als eine moralische und nicht als eine analytische Kategorie betrachtet und ihn eher ablehnt.

Nun besteht sozialgeschichtlich ein Zusammenhang zwischen dem Rassismus-  und dem Rasse-Begriff; letzterer galt/gilt in der deutschen Wissenschaftsdebatte nach den Erfahrungen mit dem Holocaust und der nationalsozialistischen Rassepolitik der 1930er und 1940er Jahre als ‚negative Kategorie‘ (Knapp) und wird tabuisiert, mit der Folge, dass ‚Rassismus‘ als diskursgebende Figuration nicht auftaucht: Mit dem Rassebegriff, so scheint es, wurde auch der Rassismus entsorgt; dabei weist der analytische Begriff Rassismus gerade auf die soziale Herstellung von bestimmten Vorstellungen über ‚Rasse‘ hin, mitsamt den damit verbundenen Handlungslogiken, wobei mit Kulturrassismus deutlich gemacht wird, dass auch ‚Kultur‘ in ähnlicher Weise konstruiert werden kann. Während in der angelsächsischen Diskussion über Dekolonisation, Migration und Diversität der rassistische Diskurs im Kontext sozialer und geo-politischer Veränderungen in kritischer Perspektive erforscht wird, steht eine deutsche Auseinandersetzung mit dem ‚kolonialen Erbe‘, das hinter dem Faschismus verschwand, noch in den Anfängen.

Auch fällt auf, dass in der jetzigen Diskussion über die ‚NSU‘ und ihr Umfeld kaum Zusammenhänge mit der sogenannten ‚Sarrazin‘-Debatte der vergangenen beiden Jahre hergestellt werden. Zur Erinnerung: Sarrazin hatte in seinem Buch Deutschland  schafft sich ab, in dem er die Anwesenheit von muslimischen MigrantInnen für kulturelle und demographische Erosionsprozesse verantwortlich machte, ähnlich argumentiert wie die Autoren Charles Murray und Richard Herrnstein  des berühmt-berüchtigten us-amerikanischen Werkes ‚The Bell Curve‘, die die sozialen Probleme Schwarzer AmerikanerInnen auf genetische Defizite zurückführten. Sarrazin‘s Werk, durch viele Medien als mutiges Zeichen gegen Denkverbote der ‚political correctness‘ und als Ausdruck der freien Rede gepriesen, argumentiert mit einer kultur-rassistischen Erklärungsfigur, in der die kulturelle Herkunft der MigrantInnen in Verbindung mit dem Islam und einer höheren Geburtenrate als Bedrohung für die Prosperität und Entwicklung der deutschen Gesellschaft gilt. Gleichzeitig wird behauptet, die ‚fremde Kultur‘ sei die eigentliche Ursache der im Durchschnitt schwachen gesellschaftlichen Stellung dieser MigrantInnen.

Diese Diskursfigur beschränkt sich nun allerdings nicht auf Deutschland, sondern ist momentan in vielen europäischen Ländern verbreitet; sie ist in den Parteiprogrammen rechts-extremer und populistischer Parteien als Kernthema zu finden und hat allmählich Eingang gefunden in den gesellschaftlichen Alltags-Diskurs. Sie galt dem Massenmörder von Oslo als Legitimation dafür, mit einem Terrorakt die Nation retten zu müssen, wie Diana Mulinari und Anders Neergaard, zwei schwedische SozialwissenschaftlerInnen, in einer ausgezeichneten Analyse über Rassismus in Skandinaviens politischer Arena im ‚Nordic Journal of Feminist and Gender Research‘ schreiben (siehe: http://dx.doi.org/10.1080/08038740.2011.650706). Mulinari und Neergaard betonen, dass es sicher keinen direkten Zusammenhang zwischen rassistischen Weltbildern und rassistischen Terrorakten gibt, dennoch sehen sie einen Zusammenhang zwischen den Narrativen öffentlicher Debatten und der Eskalation rassistischer Gewalt. Sie entwickeln die These, dass die Neigung zu Gewaltakten, wie der in Oslo, immer dann besonders gut gedeiht, wenn eine diskursive Opportunitätsstruktur  existiert, die eine symbolische Anerkennung, Legitimation und Unterstützung für die Idee der Bedrohung und Überfremdung – in diesem Fall durch muslimische MigrantInnen – bietet.

Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen der Situation in Skandinavien, wo in allen Ländern rechts-extreme und populistische Parteien in den Parlamenten, zeitweise auch in der Regierung sitzen und der Diskussion in Deutschland über die Entdeckung  der ‚NSU‘? Ich denke ja, denn die rassistische Logik eines zum Allgemeingut gewordenen Narrativs über die ‚muslimischen Anderen‘ entfaltet seine Wirkung nicht nur innerhalb rechtsextremer Kreise, wo ein Mordopfer de-humanisiert als ‚Türke‘ 1, 2, 3, usw. präsentiert wird (selbst wenn es dabei um einen Mann mit griechischem Migrationshintergrund geht), sondern auch bei denen, die diese Morde aufklären sollten; auch deren Handlungswissen wird aus den öffentlichen Debatten über ‚Türken‘ gespeist, die sich durch die Dramatisierung von Kriminalität und sozialer Devianz auszeichnen und soziale Distanz generieren oder zumindest überhöhen. Für die Erfahrungen der Angehörigen, die sich in dieser Formation auch noch mit Anschuldigungen unter Generalverdacht gestellt sahen, war in einem solchen Kontext wenig Raum und ihr Glaube an den demokratischen Rechtstaat ist sicher noch für lange Zeit erschüttert. Die Berliner Politikerin und ehemalige Ausländerbeauftragte der Stadt Berlin, Barbara John, hat als Ombudsfrau der Angehörigen zu Recht darauf hingewiesen, dass bei den untersuchenden Behörden ein Defizit an ‚Diversitätskompetenz‘ zu konstatieren ist.

Ich würde hier allerdings noch gern hinzufügen, dass auch wir SozialwissenschaftlerInnen uns durch dieses Statement angesprochen fühlen sollten und dies mit dem Plädoyer verbinden, die vielen Facetten und Aktionsebenen von kulturrassistischen Opportunitätsstrukturen genauer unter die Lupe zu nehmen und sie auch als solche zu diskutieren. Darin sehe ich die besondere Herausforderung der oben konstatierten ‚Schreckstarre‘ für die soziologische Debatte.