Ein Kampf um Gesellschaft(sbilder). Teil III einer Kritik an Cornelia Koppetschs Gesellschaft des Zorns.

Philipp Rhein

[Diesen dritten Teil der Serie von Blogbeiträgen hat Philipp Rhein verfasst, mit dem ich das Buch intensiv diskutiert habe. Philipp Rhein ist Doktorand der Soziologie an der Universität Tübingen und Ko-Autor des Buches Die Wissenschaftssoziologie Pierre Bourdieus (Springer 2018). Teil I der Serie, in dem Koppetschs Position im Kontext skizziert wird, findet sich hier, Teil II, in dem ich ihre Darstellung des Kosmopolitismus problematisiere, hier. (Floris Biskamp)]

Links zu allen sechs Teilen der Kritik:
Teil I, Teil II, Teil III, Teil IV, Teil IV, Teil V, Teil VI

Im letzten Beitrag in dieser Reihe wurden Koppetschs Illustrationen kritisiert, die den von ihr behaupteten cleavage zwischen Kosmopoliten und Deklassierten sicht- und greifbar machen sollen. In der Tat beanspruchen diese Milieubilder viel Raum in ihrem Buch. Im Zentrum der Kritik stand das performative Problem dieser illustrierenden Darstellungsweise, die letztlich mehr Wirklichkeit erzeugt als sie (empirisch) in Anspruch nehmen kann. Das Problem des Buches, so könnte man zusammenfassen, liegt nicht darin, dass die soziologische Analyse unempirisch bleibt – das allein wäre zunächst noch kein Problem –, durchweg aber mittels der Heranziehung reliefartiger Darstellungen der sozialen Welt suggeriert, empirisch begründet zu sein. Dem soll in diesem Teil der Reihe eine Würdigung des soziologischen Gehalts des Buches zur Seite gestellt werden, der, zugegebenermaßen, angesichts der berechtigten kritischen Punkte, unterzugehen droht. Koppetschs Buch weckt nämlich auch soziologisch-empirische Neugierde.

Es gibt inzwischen zahlreiche Lektüren, die sich mit der Entstehung und den gesellschaftlichen Bedingungen des Rechtspopulismus befassen – und darunter sind auch einige, die ihren analytischen Ansprüchen mehr Raum geben als ihren illustrativen. Eines der bemerkens- und nennenswerten Beispiele ist Philip Manows Buch „Die politische Ökonomie des Populismus“. Manow zeigt darin, inwiefern die spezifische Verfasstheit nationaler Wohlfahrtsstaaten das Auftreten linker oder rechter politischer Kräfte bedingt. Auf den ersten Blick bleibt Koppetschs Buch über „Rechtspopulismus im globalen Zeitalter“ – so der vielversprechende Untertitel ihres Buches – hinter Manows komplexer Analyse von Globalisierungsfolgen zurück. Aber erstens wurde dieser Reihe bereits angedeutet, dass sich die sozialstrukturell undifferenzierte Darstellung der kosmopolitischen Herrschaftsklasse als seine Art pädagogischer Trick verstehen lässt. Koppetsch geht mit „ihrem eigenen Milieu“ und der erwarteten Leser_innenschaft ihres Buches deutlich schärfer ins Gericht und diese pädagogische Verve führt ihr die Feder. Aber anstatt einseitig die illustrative Arbeit des Textes zu kritisieren, ist es geboten, auch den soziologischen Gehalt des Textes zu würdigen. Und zweitens gibt es unter den bisherigen, mit dem Themenlabel „Rechtspopulismus“ versehenen Lektüren wenige Beiträge, die sich im strengeren Sinne als sozio-logische Erklärungsversuche eingrenzen lassen. Das Feld ist dominiert von politologischen Beiträgen. Von diesen Texten sind viele wichtig und manche unverzichtbar, um das Phänomen „Rechtspopulismus“ verstehen zu können. Doch hält man nach gesellschaftsanalytischen Schriften Ausschau, wird die Ausbeute dünner. Das erwähnte Buch von Philip Manow nimmt sich, so sagt es schon der Titel eindeutig, politische Ökonomie(n) vor und fragt nach dem Verhältnis von Wohlfahrtsstaatlichkeit, Arbeitsmärkten und politischen Institutionen. Das kommt bei Koppetsch zwar durchaus vor, das sind dann aber weder die stärksten Teile ihres Buches, noch sind sie eben derart mit analytischem Anspruch verkoppelt wie bei Manow. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch nicht, wie und worin sich die disziplinären (Selbst)Verortungen der beiden Autor_innen unterscheiden, sondern wie sich unter soziologischen und sozialtheoretischen Gesichtspunkten nach dem Phänomen Rechtspopulismus fragen lässt. Diesen Anspruch verfolgt Koppetsch Buch, und darin hat es bisweilen noch ein gewisses Alleinstellungsmerkmal.

Dieser Beitrag zielt darauf, ausgehend von den eben skizzierten Überlegungen die Möglichkeit einer Zusammenführung der Argumente von Manow und Koppetsch zu diskutieren. Um dies zu ermöglichen, soll zunächst Koppetschs soziologischer Modellierung der sozialstrukturellen Ursachen des Rechtspopulismus nachgegangen werden. Dies wird in drei Schritten geschehen. Erstens will ich betonen, dass Koppetsch mit einer allgemeinen symboltheoretischen Modellierung sozialer Verhältnisse operiert. Darin besteht die größte Stärke ihrer Bourdieu-Rezeption. Auf dieser Grundlage plausibilisiert sie zweitens, dass Politik ein symbolischer Kampf um Re- und De-Klassifizierung von Gruppen in Gesellschaft ist. Darin geben rechtspopulistische Politikangebote sozialstrukturheterogenen Gruppen eine Chance zur Entdeckung von Gleichheit in der Ungleichheit. Daraus wird drittens Rechtspopulismus durch die Gesellschaftsbilder rechtspopulistischer Parteien und ihrer Wähler_innen zu einem soziologischen Gegenstand. Am Ende lässt sich dann unter Bezugnahme auf Manows Studie nochmal der empirischen Neugierde nachspüren, die Koppetschs Analyse zuvorderst weckt.

Symbolische Klassenkämpfe

Koppetschs soziologische Analyse des Rechtspopulismus behauptet soziale Ursachen und Gründe für ein gesellschaftlich-politisches Phänomen. Und sie macht die sozialen Ursachen gegen zwei zentrale Erklärungsmuster stark: Gegen die Wahrnehmung des Rechtspopulismus als politische Formation ökonomischer Modernisierungs- oder Globalisierungsungleichgewichte und ökonomischer Verteilungskämpfe einerseits. Und andererseits gegen die „Kulturalisierungsverlierer-These“ (104), der zufolge kulturelle Liberalisierungs-, Diversifizierungs- und Individualisierungsprozesse opponierende Werthaltungen und Politikerwartungen heraufbeschwören. Koppetschs Abgrenzung gegen diese beiden Analyserichtungen ist im ersten Teil dieser Reihe beschrieben und ihre soziologische Analyse modelliert die Sozialität des Phänomens Rechtspopulismus in der Tat anders. Auf einem Bein: Der Rechtspopulismus zeigt eine Opposition gegen die kulturelle Vorherrschaft einer relativ breiten akademisch-kosmopolitischen Ober- und Mittelschicht an. Im Zentrum steht das Bestreben um die „Herabwürdigung der Symbole kosmopolitischer Gesinnung“ (122). Aus Sicht der AfD-Wähler hätten sich nämlich die kosmopolitischen Milieus „allzu selbstgefällig in ihrer Hegemonie eingerichtet […]. Sie dominieren, weil sie über ein ‚Meinungsmonopol‘ verfügen und keine Gelegenheit auslassen, ihren kulturellen Habitus, ihre Einstellungen und Sichtweisen für maßgeblich zu erklären.“ (122) In dieser Skizze scheint nur auf den ersten Blick eine „Kulturalisierungsverlierer-These“ auf. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass Koppetsch eine präzise Bestimmung des Sozialen hat, mithilfe dessen sie den Rechtspopulismus zu erklären versucht – eine präzisere Bestimmung, die nicht in einem auf Liberalisierung, Pluralisierung und/oder Individualisierung (oder „Singularisierung“) zugeschnittenen „Kultur“-Begriff aufgeht.

Rechtspopulistische Kämpfe werden von ihr als symbolische Klassenkonflikte, als Konflikte um die Deutungshoheit über die soziale Welt gedeutet. In diesem Sinne operiert Koppetsch als veritable Symboltheoretikerin nach Bourdieu. Ihr Begriff des Sozialen lässt sich grundlegend als ein symbolisches Verhältnis geteilter Bedeutungen begreifen. Das Symbolische meint in dem Sinne eine kollektive Bedeutungs- und Bewertungsmatrix, die kollektive Wahrnehmungen und Bewertungen von Vorkommnissen in der sozialen Welt organisiert. Koppetschs soziologische Beschreibung des Rechtspopulismus als politischer Kampf um den Bruch mit bestimmten, als herrschend (oder kosmopolitisch) klassifizierten Sichtweisen, ist auf diese Weise durchaus plausibel. Und umgekehrt gilt, dass ein selbstbewusster und -gefälliger Fingerzeig auf die vermeintlich irrationalen, affektgesteuerten, medieninkompetenten Rechtspopulismusaffinen gleichsam symbolisch auf seinen Platz verwiesen ist.

Bei diesen symbolischen Kämpfen geht es immer auch um die Opposition gegen bzw. Durchsetzung von bestimmten Weltsichten und als legitim erachteten sozialen Lebensführungsmustern, die Sichtbarmachung und Durchsetzung legitimer und honorierter Lebensweisen, Einstellungs- und Konsummuster. In einem Wort: um Lebensstile. Ihre argumentative Engführung entlang Bourdieus politischer Soziologie ist streng praxeologisch und verknüpft auf diese Weise Sozialstruktur- und Lebensstilanalyse mit Politik. Im Zentrum dieser Verknüpfung steht das Symbolische. Ohne dass Koppetsch diese Gedankenfigur explizit macht, rückt sie dennoch Bourdieus Homologie-Verhältnis von symbolischen und sozialen Strukturen in den Mittelpunkt ihrer sozialtheoretischen Argumentation. Die soziale Welt lässt sich nämlich weder auf die Vorstellungen reduzieren, die sich soziale Akteur_innen von ihr machen, noch ist sie ausschließlich als Dingtatsache zu behandeln in Ausklammerung der Vorstellungen, die sich die Akteure von ihr machen (Bourdieu 1992, S. 135–154). Akteur_innen konstruieren zwar ihre Weltsichten – und somit immer auch die soziale Wirklichkeit – aber sie konstruieren sie unter strukturellen Zwängen (143-144). Soziale Strukturen – und das heißt immer auch die wahrnehmungsbasierten Status- und Positionszuweisungen – stehen auf symbolischer Ebene zur Verfügung und sind nie nur das direkte Resultat individueller Klassifikationspraktiken. Das Symbolische nimmt damit eine Vermittlungsebene zwischen Struktur und Praxis ein. Symbolische Ordnungen sind demnach die den Praktiken zugrundeliegenden Strukturen der Sinnerzeugung, die eine Anerkennung einer gesellschaftlichen Ordnung miterzeugt. Sie fungieren als basale sinnstiftende Unterscheidungssysteme, die letztlich auch wirkliche, d. h. soziale Unterschiede machen.

In dem Sinne – und damit schließt Koppetsch wieder explizit an Bourdieu an – lässt sich verstehen, dass soziale Konflikte – oder wenn man den politischeren Begriff bevorzugt: Klassenkämpfe – soziologisch gesehen nicht auf ökonomische Verteilungskämpfe zu reduzieren sind, sondern stets symbolische Konflikte um die Anerkennung einer gesellschaftlichen Ordnung und die Legitimation gesellschaftlicher Ungleichheiten sind. „Der Verteilungskampf“, so Koppetsch, „ist von einem symbolischen Kampf um die Ausdeutung und Gestaltung gesellschaftlicher Machtverhältnisse […] überhaupt nicht zu trennen“ (127). Das gibt letztlich Rechtspopulismus soziologisch in erster Linie als symbolischen Machtkampf zu verstehen: die Anhänger_innen der AfD arbeiten durch ihre Zustimmung zur politischen Programmatik der Partei beständig an der Delegitimierung eines bestimmten anderen, zum Feindbild erklärten Lebensstils, den Koppetsch als kosmopolitisch bezeichnet – und damit auch an der Delegitimierung bestimmter Lebensformen, Einstellungsmuster, Weltdeutungen oder „Haltungen zu kulturellen Praktiken und Wissensgütern generell“ (114), wie sie treffend sagt. Ein, seiner Tendenz nach, essentialistisches Verhältnis zu Kultur, Wissen und Wahrheit, von den Subjekten verstanden als unveräußerliche Grundlagen fester Standpunkte, steht den am Profit kultureller Aufmerksamkeitsmärkte orientierten kulturellen Allesfressern gegenüber. Bei dieser Opposition wird nicht nur der Lebensstil und die kulturellen Aneignungs- und Umgangsformen mit Bildung, Wissen und Wahrheit, sondern wird auch die andere soziale (Träger_innen)Gruppe, die Existenz der jeweils als anders Unterschiedenen, der anderen Klasse und ihrer Wahrnehmungs- und Aneignungsweisen delegitimiert.  

Angebot und Nachfrage

Allerdings bleibt Koppetschs Soziologie des Rechtspopulismus nicht bei der Bestandsaufnahme neuer gesellschaftlicher Klassifikationsbedarfe stehen – ganz so, als würden die Weltsichten und Lebensstiloppositionen logisch aus einer realen, gar von den Kosmopoliten ausgehenden Deklassierung hervorgehen. Darüber hinaus beschreibt Koppetsch, dass gleichzeitig auch entscheidende Produzent_innen symbolischer Weltdeutungen am Werk sind – und auch wenn sie diesen Punkt weniger zur Geltung bringt, sie tut es knapp und fast unmerklich und es lohnt sich daher, nochmal das Augenmerk darauf zu richten: „Im politischen Feld geht es um die Durchsetzung öffentlicher Wahrheiten und allgemeingültiger Gesellschaftsbilder“ (128). Hinter dieser knappen Bemerkung verbirgt sich indessen ein wichtiger soziologischer Gedanke über das Politische.

Koppetsch macht deutlich, dass die Nachfrage nach rechtspopulistischer Politik weder unabhängig noch vollkommen determiniert ist von der präferierten politischen Programmatik. Es ist viel eher anzunehmen, dass von der spezifischen Funktionsleistung von Politik – Kollektivitäten erzeugen sowie ihnen durch bindendes Entscheidungsversprechen Sichtbarkeit und Offizialität verleihen – eine „außergewöhnliche gesellschaftliche Macht“ ausgeht, wie Bourdieu sagt. Es ist die Fähigkeit der Politik, „etwas explizit, öffentlich zu machen, zu veröffentlichen, gegenständlich, sichtbar, in Worten fassbar, ja offiziell werden zu lassen, was bislang wegen fehlender objektiver oder kollektiver Existenz auf der Ebene individueller bzw. serieller Erfahrung verblieb – Ängste, Nöte, Beklemmungen, Hoffnungen, und Ungewißheiten – […], eine Gruppe zu schaffen durch Schaffung des common sense, des ausdrücklichen Konsens der ganzen Gruppe.“ (Bourdieu 1991, S. 19)

Die erzeugten Kollektive entdecken sich und ihre Bedarfe gewissermaßen in einer bestimmten, Zustimmung erheischenden politischen Programmatik – und sie entdecken sie und sich als kollektiv. Bespielt wird diese Entdeckung über das Versprechen der Wiederherstellung einer kulturkonformistischenWissens- und Aneignungsform durch die Wiedereinhegung global entgrenzter Ökonomie, Kultur und Lohnarbeit und der Restauration nationalstaatlicher Souveränität – alles sichtbar gemacht über die Sozialfigur des/der Migrant*in, so Koppetschs Argument (41).

Aber anders als Philip Manow geht es Koppetsch nicht um den Sinn oder Unsinn derlei politischer und polit-ökonomischer Versprechen, sondern um die mit einer solchen Programmatik symbolisch verbundenen Aspekte. Daher auch ihre prägnante Charakterisierung des Rechtspopulismus als Therapie (145ff.).  Es geht darin um die „symbolische Rehabilitierung des Subjekts durch die Wiederaufrichtung der aus der Sicht des Subjekts gerechten vergangenen Gesellschaftsordnung.“ (145) Versprochen wird die Rückkehr zu (vermeintlichen) früheren Spielregeln, solchen nämlich, die im Laufe der Zeit verloren geglaubte Investitionen zurückholen – und zwar allen jenen, die an Bildungs-, Kultur- und Wissensgüter glauben und darin bildungs- und werterziehungsbezogen zu investieren bereit waren. Die Erfahrung sozialer Deklassierung wurde über die Zeit eingeschliffen und lässt sich über politische Angebotserstellung begreifen als strukturbedingte Entwertung all dessen, woran lange Zeit geglaubt wurde, worin investiert wurde, worauf sich die Hoffnung auf intergenerationale Prosperität gründete. Und diese Erfahrung respektive die Entdeckung dieser Erfahrung in rechtspopulistischer Programmatik, sind, so macht Koppetsch deutlich, sozialstruktureIl durchaus divers. Das Resultat der symbolischen Kämpfe um Klassierung und De-Klassierung bestimmter Lebensstile, Wissens- und Aneignungsformen oder Einstellungen zu Bildung ist die Entdeckung einer sozialen Gleichheit in der Ungleichheit, wobei die faktische Ungleichheit unproblematisch gehalten wird. Das heißt: Facharbeiter_innen und Handwerker_innen, die in ihrer beruflichen Qualifizierung, mindestens in der Wahrnehmung, entwertet werden; angestellte Daimlerwerker_innen, die den Kampf um Fahrverbote und für Elektromobilität nicht nur als Bedrohung ihrer Arbeitsplätze, sondern auch als moralische Entwertung ihrer Arbeitsleistung interpretieren; einem traditionell-humanistischen Wissenschaftsethos anhängende Wissenschaftler_innen, die ihre eigene Position durch die Umstellung auf einen internationalen Qualifikationsmarkt und durch das internationale Wissens- und Wissenschaftsmanagement nivelliert sehen – all diese sozialstrukturell durchaus ungleichen Gruppen entdecken ihre vermeintliche Deklassierungs-Gemeinsamkeit über das politische Angebot und entproblematisieren darüber die bestehende Ungleichheit zwischen ihnen. Höchst unterschiedliche, aber strukturell verwandte Gruppen entdecken durch das rechtspopulistische Politikangebot eine Vergleichbarkeit ihrer Situation im Sozialraum. Demnach leistet der Rechtspopulismus die symbolische Herstellung von Gemeinsamkeit trotz Unterschiedlichkeit – er stellt eine „symbolische Klammer“ (130) bereit, die es ermöglicht, die individuelle Deklassierungswahrnehmung als gesellschaftliches Phänomen zu sortieren. Die eigene Situation wird mit der Situation anderer vergleichbar. So entsteht – politisch gewollt, symbolisch hergestellt und in individuellen Wahrnehmungen realisiert – eine Koalition der Deklassierten.

Gesellschaftsbilder

Hinter all dem stehen Bilder und Vorstellungen von einer Gesellschaft, die einem selbst, der eigenen Gruppe oder einer Reihe unterschiedlicher, aber strukturell verwandter Gruppen über die Zeit einen Platz zuwies, der als ungerecht und deklassierend wahrgenommen und bewertet wird. Es sind ressentimentgeladene Gesellschaftsbilder (154) am Werk, so Koppetsch, die sich aus dem politischen und medialen Feld speisen, oder – genauer gesagt – die in Gestalt politischer Programme oder medialer Inhalte den subjektiven Gesellschaftsvorstellungen Gestalt, Form und Diskursfähigkeit verleihen und durch die hindurch die besagten Gruppen zu politischen Koalition zusammengeschmiedete werden.

In Koppetschs Darstellung jedoch nimmt es (zu) häufig den Anschein, als seien die sozialen Bösewichter auf der anderen Seite die hegemonialen Kosmopolit_innen, die über die gesellschaftlichen Deutungsmonopole verfügen und diese, sich in moralischer Überzeugung wähnend, gegen die ohnehin Deklassierten zur Geltung brächten. Dieser stark gemachten Hegemonie-Unterstellung Koppetschs soll hier nicht weiter nachgegangen werden – dem widmet sich Floris Biskamp, der im letzten Beitrag dieser Reihe wieder das Ruder übernehmen wird. Vielmehr sind abschließend noch zwei Anmerkungen zur empirischen Neugier angebracht, die Koppetschs soziologisches Analyseraster weckt.

Koppetsch operiert mit einer starken Figurierung zweier gesellschaftlicher Lager – der Kosmopoliten und der Deklassierten – die einander sogar gegenüberzustehen scheinen. Die symboltheoretische Begründung dieser Figurierung ist, sofern man sich darauf einlässt dies herauszulesen, instruktiv. Was letztlich jedoch als empirische Frage übrigbleibt: inwiefern werden die Kosmopoliten in ihren Werthaltungen, Lebensstilen und/oder ihrer Identitäten von den Deklassierten überhaupt als reale Klasse wahrgenommen? Welche Bewertungen knüpfen sich an die Wahrnehmung eines solchen cleavage und hängt die dann auch mit einer Affinität zum politischen Rechtspopulismus zusammen? In anderen Worten: machen sich die einen überhaupt ein Bild von den anderen kosmopolitischen Bösewichten? Worin bestünde letztlich ein solches Bild – worin bestünde das Gesellschaftsbild der Deklassierten und wem oder was wird darin Bedeutung beigemessen? Und in welchem Verhältnis stehet diese Bild zur sozialen Realität der „kosmopolitischen“ Milieus?

Koppetsch muss diese Fragen freilich empirisch unbeantwortet lassen. Aber sie eröffnet eine aufschlussreiche soziologische Analyseperspektive auf den symbolischen Kampf der Rechtspopulist_innen um De- und Re-Klassifizierungen. Dass es gewinnbringend ist, diese symbolischen Kämpfe in den Mittelpunkt einer soziologischen Analyse eines schwer greifbaren politisch-gesellschaftlichen Phänomens zu stellen, lässt sich nochmals mit Bourdieu zum Ausdruck bringen. „Politisches Handeln im eigentlichen Sinne“ sei nämlich in erster Linie möglich, „weil die sozialen Akteure als Teil der sozialen Welt über […] Erkenntnisse dieser Welt verfügen und weil man die soziale Welt beeinflussen kann, indem man diese Erkenntnisse beeinflusst.“ (Bourdieu 2013, S. 11) Genau das ist es, worin rechtspopulistische Politik gegenwärtig so erfolgreich ist.

Koppetschs Gesellschaft des Zorns unterscheidet sich in seiner soziologischen Anlage von anderen vielgelesenen Analysen zum Thema Rechtspopulismus. Dabei hält sie sich durchaus anschlussfähig. Darüber soll, wie eingangs versprochen, abschließend noch einer Parallelisierung von Koppetsch und Manow nachgedacht werden.

Manow mit Koppetsch gelesen

Philip Manows einschlägiges Bändchen analysiert Populismus als Protestartikulation gegen Globalisierung, die in ihrer spezifischen politischen Gestalt bestimmt ist davon, welche Art von Globalisierung jeweils für die betreffende politische Ökonomie ein Problem darstellt. Holzschnittartig könnte man Manows Schematisierung so zusammenfassen: Migration wird zum Problem in den prinzipiell inklusiven, nord- und zentraleuropäischen (aber auch angelsächsischen) und weniger in klientilistischen Wohlfahrtsstaaten. Das hängt mit der wohlfahrtsstaatlichen Funktion der Arbeitsmarkt-Integration zusammen. Migration entwickelt sich dort nicht zu einem sozialpolitischen Verteilungsproblem, wo die Arbeitsmarktinklusion in geringerem Maß an wohlfahrtsstaatliche Absicherungsversprechen gekoppelt ist. Dies ist nun Manow zufolge insbesondere bei den Wohlfahrtsstaaten des europäischen Südens der Fall. Migration bedeutet hier, dass „lediglich“ prekäre und informelle Welten unterhalb der offiziellen Arbeitsmärkte entstehen – die ohnehin wenig Sozialleistungen und arbeitsrechtlichen Schutz zu erwarten haben. Die inklusiven Wohlfahrtsstaaten des europäischen und globalen Nordens hingegen koppeln die Zugangsberechtigung zum Arbeitsmarkt mit dem Erwerb sozialer Anwartschaften. Manows zentrale These lautet nun, dass rechter Populismus in den inklusiven und großzügigen Wohlfahrtsstaaten des Nordens (nicht aber in den angelsächsichen Ländern) in erster Linie ein Arbeitsmarkt-Insider Protest ist, der sich primär gegen Migration und weniger gegen internationalen Handel richtet. So auch die AfD: Hier sind Arbeitsmarkt-Insider gegenüber benachteiligten Arbeitsmarkt- und Gesellschaftsgruppen deutlich in der Überzahl, wodurch sich zeigen lässt, dass die Erfolge der AfD eher Ausdruck von Angst vor Statusverlust und Arbeitslosigkeit als eine unmittelbare Reaktion auf bereits erlebten Abstieg sind. In der Tat zeigt Manow empirisch, dass eher eigene oder in unmittelbarer sozialer Nähe erlebte Arbeitslosigkeit in der Vergangenheit mit AfD-Wahl zusammenhängt, denn aktuelle Arbeitslosigkeit oder geringfügig entlohnte Beschäftigung.

Allerdings legen die bestechenden empirischen Analysen Manows nicht offen, ob und auf welche Weise zurückliegende Arbeitslosigkeit tatsächlich durch die Wahlentscheidung für die AfD „verarbeitet“ wird. Spielt tatsächlich eine gefährdet empfundene Arbeitsmarkt-Integration eine Rolle, wenn Menschen ihrer politischen Wahlentscheidung, respektive der AfD-Wahl Sinn verleihen? Und worin besteht die von Manow angenommene Angst vor Statusverlust und was bedeutet sozialer Status für diejenigen, die die AfD wählen? Spielen in dieser Hinsicht möglicherweise noch andere Faktoren eine Rolle, wenn Arbeitsmarkt-Insider die AfD wählen? Manows Gedankengebäude abstrahiert notwendigerweise von konkreten Sinnkonstruktionen, die zur AfD-Wahl führen. Letztlich läuft sein Argument darauf hinaus, dass spezifische kulturelle und historische Erfahrung mit dem Wohlfahrtsstaat gegenwärtig Gefühle der Deklassierung und Zurücksetzung evozieren, für die die AfD-Wahl problemlösend funktioniert. Und an dieser Stelle zeigt sich eine interessante Konvergenz. Koppetsch und Manow geht es beiden um historische Erfahrungen der Deklassierung – um zeitbezogene Erfahrungen in und mit der sozialen Welt. Wie diese zustande kommen, welche biografischen Faktoren, Gesellschaftsbilder oder Klassifikationslinsen den Ausschlag geben für rechtspopulistische Affinitäten, lässt sich damit noch genauer eruieren. Schließlich zeigt Koppetsch eindrucksvoll, warum trotz feststellbarer Unterschiede zwischen diversen Gruppen von Arbeitsmarkt-Insidern – und auch einer beträchtlichen Zahl von Outsidern –, der Rechtspopulismus eine soziale Gemeinsamkeit zu entdecken zulässt.  An diesem Punkt lässt sich letztlich tiefer bohren und fragen: Wie und warum wird die AfD für was als politische Problemlösung vorgestellt?

So gefragt folgte man dann freilich einer anderen Forschungslogik als der Manows und würde sich eher in die Programmatik von Catherine Cramer einreihen, die von Koppetsch auch wertschätzend zitiert wird, und die in ihrem beachtenswerten Buch The Politics of Ressentment danach fragt, wie bestimmte politikbezogene Wahrnehmungs- und Bewertungslinsen funktionieren, die sie als „rural consciousness“ bezeichnet. Als Soziolog_in dürfte man nach der Lektüre von Koppetsch indes mindestens genauso neugerig sein wie Cramer: „I do the listening required to study how people combine their sense of themselves in the world with their perception of economic conditions to arrive at policy preferences.” (Cramer 2016, S. 7)

Literaturverzeichnis

Bourdieu, Pierre (1991): Sozialer Raum und „Klassen.“. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Bourdieu, Pierre (1992): Rede und Antwort. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Bourdieu, Pierre (2013): Beschreiben und Vorschreiben. Die Bedingungen der Möglichkeit politischer Wirkung und ihre Grenzen. In: Franz Schultheis und Roswitha Schmid (Hg.): Pierre Bourdieu. Politik. Schriften zur politischen Ökonomie 2. Berlin: Suhrkamp, S. 11–22.

Cramer, Katherine Jean (2016): The Politics of Resentment. Rural consciousness in Wisconsin and the rise of Scott Walker. Chicago, London: University of Chicago Press.

Ein Gedanke zu „Ein Kampf um Gesellschaft(sbilder). Teil III einer Kritik an Cornelia Koppetschs Gesellschaft des Zorns.“

  1. Rechtspopulismus oder rechte Bewegungen?

    RechtsPOPULISMUS soziologisch erklären zu wollen, ist offensichtlich eine emotional-ideologisch determinierte Themen-Selektion und keine wissenschaftlich determinierte!

    Populismus ist die dominierende, ÖFFENTLICHE Form der Kommunikation in der Massen- und Konsensdemokratie im Kampf um die Macht. Sie ist nicht auf rechte Bewegungen beschränkt.

    Populismus und sophistische Machtstrategien an sich sind soziologisch relevante Themen.
    Macht und Kommunikation gehören aus der Perspektive einer sozialrealistischen Soziologie, die WAHRSCHEINLICHES Verhalten als Resultat von Strukturen konzipiert, zusammen: https://soziologiedesunbewussten.blogspot.com/2019/06/kommunikation-macht.html.

    Wahrheitsorientierung jenseits von Sophismus und Machtprozessen sind lediglich AusnahmeMÖGLICHKEITEN im kleinen Kreis oder in ontologisch/epistemologisch streng kontrollierten Bereichen von Wissenschaft!

    Also kann es in diesem Fall nur soziologisch-wissenschaftlich um die Erklärung der weltweiten Zunahme rechter Bewegungen gehen.

    Dies setzt voraus, dass man erst einmal erklärt und definiert, was man erklären will!

    Gibt es ein Wesensmerkmal rechter Bewegungen?

    Ja, mein Vorschlag ist ein Negativkriterium: „Antiliberalismus“, weil rechte Bewegungen nicht über ein theoretisches Fundament, vergleichbar mit dem linker Bewegungen, verfügen!

    Welches Merkmal ist plausibler und genauer????

    Wenn man herausgefunden hat, WAS man erklären will, geht es um die theoretisch-methodologische Grundlage, auf der die erklärenden Hypothesen, die prinzipiell falsifizierbar sein sollten, basieren.

    Falls Bourdieu die Theorie hierzu liefern soll, sind seine Praxeologie auf die methodologische Plausibilität (z.B. Realismus/Konstruktivismus und Verhältnis von Interaktionen und Gesellschaftsstruktur) am Beispiel seiner Konzepte des „Habitus“ und seiner Symboltheorie zu überprüfen.

    Ist seine Praxeologie wissenschaftstheoretisch haltbar und plausibel?

    Hierzu liefert Ihr Text sehr schöne Einstiegsmöglichkeiten:

    „Ihre argumentative Engführung entlang Bourdieus politischer Soziologie ist streng praxeologisch und verknüpft auf diese Weise Sozialstruktur- und Lebensstilanalyse mit Politik. 

    Akteur_innen konstruieren zwar ihre Weltsichten – und somit immer auch die soziale Wirklichkeit – aber sie konstruieren sie unter strukturellen Zwängen (143-144). 

    Das Symbolische nimmt damit eine Vermittlungsebene zwischen Struktur und Praxis ein. Symbolische Ordnungen sind demnach die den Praktiken zugrundeliegenden Strukturen der Sinnerzeugung, die eine Anerkennung einer gesellschaftlichen Ordnung miterzeugt. Sie fungieren als basale sinnstiftende Unterscheidungssysteme, die letztlich auch wirkliche, d. h. soziale Unterschiede machen.“

    Das Verhältnis „Struktur“ zu „Lebenswelt“/Interaktionen wird von Bourdieu WISSENSCHAFTLICH nicht zu Ende gedacht und bleibt sozialkonstruktivistisch und emotional-ideologisch abgelenkt in einer typischen, unrealistischen dialektischen Symmetrie hängen, die die Phänomenologie der Relationen mit den sie verursachenden Strukturen der Realität identifiziert!

    Deshalb ist mit seiner Hilfe der Zugang zur Erklärung rechter Bewegungen WISSENSCHAFTLICH-systematisch nicht erfolgversprechend, obwohl er mit dieser Einschränkung inhaltlich sehr anregend bleiben kann für die Entwicklung einer wissenschaftlichen Soziologie, die diese qualifizierende Bezeichnung verdient.
    Sozialrealistische Alternativen jenseits des aktuellen akademisch-soziologischen Konsenses sind möglich, aber innerhalb der aktuellen emotional-ideologischen Komfortzone argumentativ kaum vermittelbar, wie ich festgestellt habe.

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