Cornelia Koppetschs Gesellschaft des Zorns ist ein anregendes Buch. Dies wurde quer durch die deutschen Feuilletons festgehalten – und es wurde zu Recht festgehalten. Anregend ist das Buch aber nicht, weil die darin gegebenen Antworten durchwegs überzeugen könnten, sondern weil es zahlreiche Fragen aufwirft und zum Widerspruch herausfordert. In einer Serie von Blogbeiträgen (vermutlich vier bis sechs, je nach Ausdauer) diskutiere ich einige der Fragen und formuliere ich einige der Widersprüche.[1]
Links zu allen sechs Teilen der Kritik:
Teil I, Teil II, Teil III, Teil IV, Teil IV, Teil V, Teil VI
In diesem ersten Beitrag geht es lediglich darum, Koppetschs Thesen zu skizzieren und innerhalb der gegenwärtigen Debatten zu verorten. In den folgenden Beiträgen gehe ich dann auf die problematischen Aspekte des Buches ein: auf die allzu polemische Schelte gegen Kosmopolit_innen, auf die allzu dünne Datenbasis, mit der Koppetsch allzu steile Thesen vertritt, auf die weitestgehende Ausblendung der faschistischen Vergangenheit, auf den paradoxen methodischen Nationalismus und ggf. auf noch etwas mehr.
Sich Platz schaffen auf einem überfüllten Markt: Koppetschs Negationen
Wie übervölkert der Markt für Rechtspopulismuserklärungen ist, erkennt man schon an den großen Kraftanstrengungen, mit denen Autor_innen am Anfang ihrer Texte andere zur Seite schieben, um noch ein wenig Platz für die eigene Position zu schaffen. Dies lässt sich anhand zweier Zitate aus aktuellen Büchern zum Thema illustrieren – einem aus Philip Manows Politische Ökonomie des Populismus, einem aus Koppetschs Gesellschaft des Zorns.
Manow moniert „das systematische Ausblenden ökonomischer Faktoren“ in den Populismusdebatten und fährt fort:
„Der Verdacht lautet: Über den Populismus als Problem zu reden ist oft eine Art, über ihn als Problemsymptom nicht reden zu müssen. Und die verbreitete Neigung, ihn als Beleg für eine fortschreitende ‚Kulturalisierung der Politik‘ (Andreas Reckwitz) zu werten und daher auch immer nur als kulturelles Phänomen zu deuten, dient in diesem Diskurs oft denjenigen, die das so deuten – und trägt damit eher zur Verschärfung des Konflikts und zu seiner Kontinuierung bei. Mir erscheint diese Diagnose selbst symptomatisch.“
(Manow: Politische Ökonomie des Populismus, S. 10-11)
Koppetsch behauptet dagegen: „Der derzeit einflussreichste Erklärungsansatz sieht den Aufstieg des Rechtspopulismus unter dem Vorzeichen ökonomischer Verteilungskämpfe.“ Auch sie verbindet die Diagnose mit einem Verdacht:
„Möglicherweise können sich gerade linke Sozialwissenschaftler nicht vorstellen, dass die Anhänger der Rechtsparteien andere als ökonomische Interessen verfolgen, sondern die gesellschaftliche Ordnung als Ganzes hinterfragen.“
(Koppetsch: Gesellschaft des Zorns, S. 38-39, Kursivierung im Original, alle weiteren nicht anders ausgewiesenen Zitate ebenfalls aus diesem Buch)
Die Ursache für diese gegensätzlichen Einschätzungen liegt freilich nicht darin, dass die Populismusdebatte sich in dem halben Jahr, das zwischen dem Erscheinen der beiden Bücher liegt, von einer systematischen Ignoranz gegenüber ökonomischen Faktoren hin zu einer Dominanz ökonomischer Erklärungen verschoben hätte – es bestand zu keinem Zeitpunkt ein Mangel an kulturellen oder ökonomischen Positionen. Solche Abgrenzungsgesten gegen vermeintlich dominante Mehrheiten sagen mehr über das Selbstverständnis der Autor_innen aus als über die Debattenlage. Und genau deshalb lohnt es sich, die Absetzungen am Anfang von Koppetschs Buch anzuschauen, um es in der Debatte zu verorten.
Dabei ist zunächst festzuhalten, dass Koppetschs Arbeit ganz klar der „nachfrageseitigen“ Forschung zuzuordnen ist: Sie richtet den Blick in erster Linie auf die Unterstützer_innemilieus des Rechtspopulismus, nicht auf die Programme der Parteien, die da unterstützt werden.
Unter den nachfrageseitigen Studien grenzt Koppetsch sich in drei Richtungen ab. Erstens tut sie das wie oben zitiert gegen ökonomische Deutungen, wobei es ihr in erster Linie um die vulgäre Form der Globalisierungsverlierer_innenthese geht. Der zufolge wehren sich ökonomisch „unten“ stehenden Verlierer_innen der ökonomisch gedachten Globalisierung mit ökonomischer Motivation und ökonomischen Zielen gegen ihre ökonomische Deprivation, artikulieren diesen eigentlich ökonomischen und irgendwie linken Klassenkampf aber aus Versehen als rechten Kulturkampf (38-39, 97-100). In Alltagsdiskursen tauchen solche Deutungen zwar durchaus auf, in der Wissenschaft spielen sie aber heute keine Rolle (mehr). Sie wären auch schwer durchzuhalten, schließlich zeigen empirische Studien konsistent, dass die ökonomische Lage rechtspopulistischer Wähler_innen sehr heterogen ist und auch keine starke Ballung am unteren Rand besteht. Entsprechend kann Koppetsch auch kaum neuere wissenschaftliche Arbeiten anführen, die die These in dieser vermeintlich dominanten Form vertreten. Außen vor lässt Koppetsch leider die 2018 erschienenen Arbeiten, die zwar ökonomische Erklärungen für den jüngsten Aufstieg der radikalen Rechten vorlegen, dabei aber deutlich komplexere Verständnisse von Globalisierungsfolgen und relativer Deprivation modellieren – dies sind neben dem angesprochenen Buch von Manow insbesondere die Arbeiten von Dani Rodrik, Brian Burgoon und Matthijs Rooduijn. Auch wenn Koppetsch sich gegen Erklärungen wendet, die in erster Linie ökonomisch sind, plädiert sie nicht dafür, ökonomische Dynamiken auszublenden, sondern dafür, sie als einen Faktor unter vielen betrachten.
Zweitens grenzt sie sich gegen Autor_innen ab, die den Aufstieg des Rechtspopulismus als kulturellen Backlash erklären. Dieser in vielen verschiedenen Formulierungen vorliegenden These zufolge hat in den letzten Jahrzehnten ein kultureller Liberalisierungsprozess stattgefunden, in dessen Rahmen liberale Werte von Individualität und Diversität gesellschaftlich führend geworden seien. Dem Rechtspopulismus gelinge es, die Gegner_innen dieser Prozesse zu mobilisieren und zu organisieren – er werde also eher durch „Kulturalisierungsverlierer“ (103) als durch ökonomische Globalisierungsverlierer_innen getragen. Somit sei Politik heute durch eine neue Spaltungslinie definiert. Je nach Geschmack verläuft diese zwischen Kosmopolitismus und Kommunitarismus (Ronald Inglehart/Pippa Norris; Wolfgang Merkel) oder zwischen Anywheres und Somewheres (David Goodhart) oder zwischen Hyperkultur und Kulturessenzialismus (Andreas Reckwitz)
Diesen Ansätzen steht Koppetsch weitaus wohlwollender gegenüber als der ökonomischen Globalisierungsverlier_innen-These – tatsächlich lesen sich ihre Schlussfolgerungen auch sehr ähnlich wie die der anderen Autor_innen aus diesem Cluster. Koppetsch kritisiert allerdings, dass die Vertreter_innen der Backlash-These keine Erklärungen dafür hätten, warum es überhaupt zu der neuen Spaltung gekommen ist und wie die kosmopolitisch-hyperkulturellen Anywheres die hegemoniale Position erlangt haben, gegen die sich der Backlash nun richte (101-104). Schaut man sich die kritisierten Texte an, zeigt sich wiederum, dass diese Kritik nicht so ganz trifft: Auch Andreas Reckwitz, gegen den derartiger Kulturalismusverdacht immer wieder geäußert wird, verweist auf den „globale[n] Kulturkapitalismus“ als „zentrale institutionelle Stütze“ der Hyperkultur sowie auf „Medientechnologien, die mittlerweile […] eine digitale Kulturmaschine von Narrationen und Affekten bilden, und de[n] globale[n] Attraktionswettbewerb zwischen den Städten und Regionen um Bewohner und Besucher“ als weitere „bedeutsame Stützen“. Wolfgang Merkel wird man erst recht nicht vorwerfen können, die sozialen Grundlagen der kulturellen Spaltung auszublenden. Nichtsdestoweniger besteht in diesen Arbeiten zweifelsohne sozialstrukturanalytischer Nachholbedarf, den einzuholen Koppetsch nun antritt.
Drittens grenzt sie sich gegen sozialpsychologische Deutungen aus der Autoritarismusforschung ab, denen sie psychologischen Reduktionismus sowie eine Essenzialisierung von Autoritarismus als fixes Persönlichkeitsmerkmal vorwirft – politische Veränderungen könnten jedoch nicht durch psychische Konstanten erklärt werden (13-14, 97). Wiederum ist die Abgrenzung in dieser Schärfe nicht ganz treffend: Wilhelm Heitmeyer (der zur überschaubaren Zahl von Forscher_innen in Deutschland zählt, die sich schon intensiv mit dem Thema auseinandersetzten, bevor es 2016 zum Trend wurde) verweist seit vielen Jahren darauf, dass Abstiegsängste der Mittelklassen für die politische Mobilisierung autoritärer Einstellungen zentral seien. Dass auch Adorno selbst seine sozialpsychologischen Betrachtungen keineswegs von Klassenanalyse getrennt betrachten wollte, kann man seit kurzem in Aspekte des neuen Rechtsradikalismus nachlesen. Hier betont der Stammvater der deutschsprachigen Autoritarismusforschung gleich mehrfach, dass man Rechtsradikalismus nicht auf Psychologie reduzieren dürfe, obgleich psychische Faktoren in der Mobilisierung eine zentrale Rolle spiele. Trotzdem ist Koppetschs Punkt plausibel: Der jüngste Aufstieg der autoritären Rechten muss in erster Linie durch soziale und politische Veränderungen erklärt werden. Sozialpsychologische Analysen haben dann „nur noch“ die Aufgabe, zu erklären, wie die kollektive und individuelle Verarbeitung dieser Transformationen in autoritäre Politik umschlägt – diese keinesfalls geringe Rolle gibt Koppetsch selbst ihnen auch (145-168).
Also sind weder die primär ökonomischen noch die auf eine kulturelle Backlash-Hypothese hinauslaufenden noch die sozialpsychologischen Erklärungen so eindimensional und defizitär, wie Koppetsch sie darstellt. Indem sie diese anderen Ansätze aber ein Stück zur Seite schiebt, schafft sie Platz für die eigene theoretische Modellierung.
Die Sozialstruktur des Kulturkampfs: Koppetschs Positionen
Die große Stärke von Gesellschaft des Zorns besteht gerade darin, dass Koppetsch die drei Ansätze, von denen sie sich zunächst abgrenzt und die oft als Gegensätze betrachtet werden, anschließend wieder aufnimmt und zusammenführt. Sie erreicht dies mittels einer Bourdieu’schen Sozialstrukturanalyse, die sie ins Zentrum ihrer Betrachtung stellt und durch die hindurch sie ökonomische, kulturelle und psychologische Deutungen artikuliert.
Dieser Ansatz erlaubt es ihr zuerst, den Gegensatz von kulturellem Backlash und ökonomischem Klassenkampf aufzulösen, weil „Klassenkampf“ aus dieser Perspektive nicht eindimensional-ökonomisch, sondern in einem zweidimensionalen Sozialraum ausgetragen wird – und entsprechend nicht nur vertikal zwischen oben und unten, sondern auch horizontal zwischen verschiedenen, mitunter gleich weit „oben“ oder „unten“ stehenden Klassen. Ziele und Mittel in diesem Kampf sind nicht nur ökonomisch-materiell, sondern auch symbolisch – und dieses „symbolisch“ überlappt sich mit dem, was in anderen Modellierungen „kulturell“ heißt.
In der so verstandenen Klassen- bzw. Sozialstruktur sei es seit Bourdieus ursprünglichen Analysen zu grundlegende Transformationen gekommen, zu einem „bislang noch unbewältigten epochalen Umbruch […], der in den zurückliegenden 30 Jahren deutliche Spuren in den Tiefenstrukturen westlicher Gesellschaften hinterlassen hat“ (14). Diesen Umbruch sieht Koppetsch einerseits durch Globalisierungsdynamiken begründet, die die Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten schärfer transformiert hätten als je zuvor (sogar schärfer als in der Frühmoderne – eine der zahlreichen überraschenden Zuspitzungen im Buch); andererseits verweist sie auf damit korrespondierende kulturelle Liberalisierungsprozesse im Innern der einzelnen Gesellschaften.
Diese Transformation habe auf der einen Seite dazu geführt, dass eine neue, kosmopolitische, progressiv-neoliberale Klasse entstanden und zum gesellschaftlichen Leitbild geworden sei – diese Klasse sei Trägerin der kosmopolitischen Hyperkultur und bringe die Kompetenzen mit, derer es bedürfe, um in der globalisierten Gesellschaft zu reüssieren. Gleichzeitig hätten auf der anderen Seite mehrere Klassen Erfahrungen der Entwertung oder des Abgehängtwerdens gemacht – diese seien nun die Trägerinnen des rechtspopulistischen Protests.
Auf Grundlage einer 2017 veröffentlichten Analyse von Michael Vester verortet Koppetsch die meisten Träger_innen des Rechtspopulismus in „drei Milieus: der konservativen Oberschicht, dem strukturbenachteiligten Milieu der traditionellen Mittelschicht sowie dem autoritären Milieu der prekären Unterschicht“ (137). Der konservativen Oberschicht gehe es in erster Linie darum, bestehende Hierarchien wohlstandschauvinistisch festzuschreiben – und biologisierende Diskurse über race und Geschlecht seien Teil dieser Festschreibung. Die traditionelle Mittelschicht dagegen müsse den Verlust ihres „kulturellen Alleinvertretungsanspruch[s]“ (140) verarbeiten, weil ihre Lebensform und ihre Werte heute anders als in der Hochzeit des Fordismus nicht mehr das kulturelle Leitbild seien, sondern eher belächelt würden. Um diese Alleinvertretung wiederherzustellen, halte dieses Milieu die in Frage gestellten Werte der fordistischen Moderne als das national Eigene hoch und grenze sie gegen vermeintlich Fremdes ab. Dem Kampf der prekären Milieus lägen ökonomische Verteilungskonflikte mit (post-)migrantischen Gruppen zugrunde, die nationalistisch artikuliert würden.
Die jeweils spezifischen Entwertungs-, Abstiegs- und Prekaritätserfahrungen dieser Milieus würden dann in Form von Ressentiments bearbeitet – diese kollektiven Verarbeitungsprozesse zu deuten ist die Aufgabe sozialpsychologischer Theorien. Die Ressentiments richteten sich einerseits gegen die progressiv-neoliberalen Kosmopolit_innen und ihren Lebensstil, andererseits gegen die „Sozialfigur des Migranten“ (41), die wie keine andere „grenzüberschreitende Mobilität, kulturelle Fremdheit, identitäre Hybridität und transnationale Verflechtungen“ (41) in sich vereine.
In dieser Darstellung erweist sich die neue kulturelle Spaltungslinie als ein politisches Oberflächenphänomen, in dem eine Transformation der sozialen Tiefenstruktur zum Ausdruck kommt.
Als theoretische Modellierung ist dies zunächst plausibel. Weniger plausibel ist aber die Polemik gegen liberalen Kosmopolitismus, die Koppetsch auf Grundlage dieser Modellierung führt – um die geht es im nächsten Beitrag.
[1] Zu den Grundlagen dieser Ausführungen zählen Diskussionen, die ich im Lektürekreis des Promotionskollegs Rechtspopulistische Sozialpolitik und exkludierende Solidarität in Tübingen geführt und mit Philipp Rhein vertieft habe.
Herzlichen Dank für diese exzellente Einordnung und erhellende Analyse.
Ich bin gespannt auf die weiteren Teile