Was heißt „die Wähler_innen der Rechten ernst nehmen“? Teil V einer Kritik an Cornelia Koppetschs Gesellschaft des Zorns

Bisher habe ich vor allem zwei verwandte Aspekte problematisiert, die für Koppetschs Erklärung rechtspopulistischer Mobilisierungserfolge zentral sind: zum einen ihre Darstellung kosmopolitischer Milieus (Teil II), zum anderen ihre These einer liberal-kosmopolitischen Hegemonie (Teil IV). In diesem fünften Teil gehe ich nun auf einen Aspekt ein, der im Buch gerade durch seine Abwesenheit auffällt, nämlich den Nationalsozialismus. Ausgangs- und Endpunkt bildet dabei die Frage, was die vielfach proklamierte Forderung, man solle die Wähler_innen der Rechten ernst nehmen, eigentlich bedeutet.

Links zu allen sechs Teilen der Kritik:
Teil I, Teil II, Teil III, Teil IV, Teil IV, Teil V, Teil VI

Was heißt es die Wähler_innen der Rechten ernst zu nehmen?

Ich kenne keine Autor_innen, die explizit fordern würden, man solle die Wähler_innen der Rechten nicht ernst nehmen. Jedoch gibt es eine ganze Reihe von Autor_innen, die das Gegenteil fordern, nämlich diese Wähler_innen endlich einmal ernst zu nehmen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass die letztere Forderung mit ganz unterschiedlichen, in gewisser Hinsicht sogar gegensätzlichen Motiven verbunden ist.

Die einen wenden sich damit gegen das, was sie als Verharmlosung und Infantilisierung der Rechten sehen, nämlich die Unterstellung, dass diejenigen, die da Parteien mit autoritären, illiberalen, rassistischen, antisemitischen, geschichtsrevisionistischen, sexistischen usw. Inhalten wählen, es eigentlich gar nicht autoritär, illiberal, rassistisch usw. meinen, sondern bloß negativ gegen die anderen Parteien protestierten und dabei eher zufällig und gewissermaßen aus Versehen an eine rechte Partei gerieten. Damit nehme man diese Wähler_innen nicht als politische Subjekte ernst. Nähme man sie doch ernst, müsste man ihnen dagegen unterstellen, dass sie sehr wohl wissen, was sie da tun, sodass es sich um Subjekte handele, die Autoritarismus, Rassismus usw. entschieden gutheißen oder zumindest bewusst billigen. So argumentierte zuletzt beispielsweise Claus Leggewie im Deutschlandfunk; auch Hajo Funkes offener Brief an potenzielle AfD-Wähler_innen passt in diese Kategorie.

Die anderen wenden sich mit der Forderung nach dem Ernstnehmen gegen das, was sie als Pathologisierung und moralische Disqualifizierung der Wähler_innen rechter Parteien sehen, nämlich die Unterstellung, dass sie von einem allenfalls psycho-logisch zu erklärenden autoritären Hass motiviert seien. Damit nehme man diese Wähler_innen nicht als rationale politische Subjekte ernst. Nähme man sie doch ernst, müsste man zunächst einmal offen nach den rationalen Motiven fragen, die sie mit ihrer Wahlentscheidung verfolgen. So argumentiert beispielsweise Philip Manow in Politische Ökonomie des Populismus.

Cornelia Koppetsch zählt zunächst zu den wenigen Autor_innen, die beides tun. Einerseits wendet sie sich gegen die Interpretation, hinter den rechtspopulistischen Wahlentscheidungen stünden eigentlich ganz andere, irgendwie harmlosere und handhabbare, weil primär ökonomische und somit rationale Motive (38-39). Stattdessen solle man die Wähler_innen der Rechten in ihrer antiliberal-antikosmopolitischen Forderung nach einer Veränderung der gegenwärtigen Ordnung ernst nehmen. Gleichzeitig wendet sie sich aber auch gegen eine autoritarismustheoretische Deutung oder eine moralische Abqualifizierung, die die Wähler_innen der Rechten zu ganz anderen, nicht als Gegenüber ernstzunehmenden Subjekte stilisiere (13-14, 32-33, 252-253). Stattdessen solle man die Narrative der Rechten auch dergestalt inhaltlich ernstnehmen, dass man sie „auf ihren Realitätsgehalt“ (33) überprüft.

Die Abwesenheit des Nationalsozialismus in der Gesellschaft des Zorns

Eines der Felder, auf denen die Frage des „Ernstnehmens“ ausgefochten wird, ist das Verhältnis des Rechtspopulismus zu Rechtsextremismus und Nationalsozialismus. Die Vertreter_innen des Ernstnehmens im ersten Sinne argumentieren hier eher zuspitzend: Sie verweisen auf die zahllosen Überschneidungen zwischen AfD und extrem rechter Szene sowie auf die stetig wiederkehrenden den Nationalsozialismus relativierenden oder verharmlosenden Aussagen von AfD-Führungspersonal („völkisch positiv besetzen“, „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“, „Vogelschiss“ etc.). Die Entscheidung von Wähler_innen für eine solche Partei müsste dann auch als Entscheidung für rechtsextreme Gehalte und die Verharmlosung des Nationalsozialismus ernstgenommen werden.

Die Vertreter_innen des Ernstnehmens im zweiten Sinne argumentieren in dieser Frage dagegen eher relativierend: Eine Betonung der Verbindungen zwischen AfD und Rechtsextremismus bzw. Nationalsozialismus sehen sie als moralischen Maximalismus, der einer das Gegenüber ernst nehmenden politischen Auseinandersetzung eher im Wege steht.

Auf diesem Feld steht Koppetsch nicht mehr auf beiden Seiten, sondern recht deutlich auf der Seite des „Ernstnehmens“ im zweiten Sinne: Sie wendet sich explizit gegen eine Ineinssetzung oder zu starke Assoziierung des Rechtspopulismus mit Nationalsozialismus, Faschismus oder Rechtsextremismus und die damit verbundene Disqualifizierung rechtspopulistischer Parteien als ‚politisch nicht satisfaktionsfähig‘. Eine solche moralische Ablehnung des Rechtspopulismus werde dem in Realität „komplexer[em]“ „Verhältnis von politischem Protest und kulturellen Bewusstseinsformen“ (252) nicht gerecht und führe darüber hinaus dazu, dass auch die vom Rechtspopulismus „angesprochenen gesellschaftlichen Problemzusammenhänge, also Themen wie Migrationspolitik, demografische Entwicklung oder Solidarität und Zusammenhalt, mit Tabus belegt und gleichsam ‚ausgebürgert‘ werden“ (253).

Dazu passt, dass der Nationalsozialismus in Gesellschaft des Zorns nur sehr vereinzelt Erwähnung findet. Wenn es doch geschieht (10, 230, 231, 250-252), dann als indirekte Referenz, etwa als Verweis auf die Effekte, die die Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit auf die politische Kultur in Deutschland habe. Zum direkten Gegenstand der Diskussion etwa im Sinne einer Analogiebildung oder eines Vergleiches wird der Nationalsozialismus im Buch aber nicht. Mit dieser weitgehenden Ausblendung schließt Koppetsch sich an eine nicht umfassende, aber doch verbreitete Tendenz der soziologischen Theoriebildung an, in der der Nationalsozialismus oft nicht als ein Bestandteil der theoretisch zu erfassenden Moderne erscheint, sondern selbst als etwas ganz anderes „ausgebürgert“ wird.

Die Überschneidungen von AfD und extremer Rechter spricht Koppetsch zwar vereinzelt an, verortet das Problem aber am „Rand“ der Partei bzw. Bewegung. Sie verweist darauf, dass „die AfD […] Zustimmung auch in bürgerlichen Kreisen findet, die bislang keine Nähe zu rechtsextremen Weltbildern aufwiesen“ (37), und behauptet, dass sich die „meisten AfD-Anhänger [….] von dem in der Öffentlichkeit besonders sichtbaren rechtsextremen Rand“ der Partei distanzierten (135). Darauf, dass dieser „Rand“ die Partei zunehmend dominiert, ohne dass die Zustimmung unter sich in der Mitte verortenden Wähler_innen nachließe, geht sie nicht ein.

Ähnlich wie in Bezug auf die Polemik gegen den Kosmopolitismus (s. Teil II), lässt sich auch hinter der weitgehenden Aussparung des Nationalsozialismus und Marginalisierung der Rolle des Rechtsextremismus eine pädagogische Motivation vermuten: Die Assoziation von Rechtspopulismus mit Nationalsozialismus und Rechtsextremismus würde es ihrem erwarteten linksliberal-kosmopolitischen Publikum nur noch einfacher machen, sich bequem in der eigenen antirechtspopulistischen Haltung einzurichten und moralisch überlegen zu fühlen. Eine solche pädagogische Entscheidung ist aus der von Koppetsch eingenommenen Perspektive plausibel und konsequent. Daher will ich im Folgenden auch nicht argumentieren, dass sie den Nationalsozialismus hätte thematisieren sollen. Vielmehr lege ich dar, an welchen Stellen eine direkte Bezugnahme auf den Nationalsozialismus sachlogisch naheliegend gewesen wäre – nämlich im Kontext der Diskussion von Protestbewegungen und des Begriffs der Neogemeinschaften – sowie welche Konsequenzen diese Einbeziehung für die Schlussfolgerungen in Bezug auf das Ernstnehmen gehabt hätte.

Nationalsozialismus und Rechtspopulismus als Protestbewegungen

Gleich im ersten Kapitel diskutiert Koppetsch den Rechtspopulismus als eine Protestbewegung, wobei sie vor allem „1968“ und die folgenden Neuen Sozialen Bewegungen als Vergleichsreferenz heranzieht. Dabei stellt sie „1968“ und Rechtspopulismus über weite Strecken als Spiegelbilder dar.

Wie Spiegelbilder ähneln sie sich beide Seiten stark – nämlich darin, dass es jeweils Protestbewegungen seien. Koppetsch versteht „Protestbewegungen als mobilisierte Netzwerke von Gruppen und Organisationen […], die über eine gewisse Dauer hinweg versuchen, ‚sozialen Wandel durch Protest herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen‘“ (39 mit Zitat von Neidthardt/Rucht). Beides gelte für „1968“ und für den. Auf einer entsprechenden Abstraktionsebene betrachtet seien beide wie alle anderen Protestbewegungen auch durch das Vorliegen der gleichen Bedingungen möglich geworden:

„Damit bedeutende Protestbewegungen entstehen, müssen mindestens drei Faktoren zusammenkommen: erstens eine strukturelle Deklassierung wesentlicher Teile der Bevölkerung; zweitens eine Legitimationskrise der bestehenden Ordnung […]; und drittens strukturbedrohliche Krisenereignisse […]. Legitimationsverluste und Krisenereignisse lassen sich dann mit sozialen Benachteiligungen oder Kränkungserfahrungen unterschiedlicher Gruppen verknüpfen und verschaffen diesen Geltung weit über die Niederlage des Statusverlustes hinaus. Der Kampf für das Eigene wird so zum Kampf für die Allgemeinheit“ (42).

Jedoch erscheinen „1968“ und Rechtspopulismus in Koppetschs Darstellung auch insofern als Spiegelbilder, als sie in ihrer Ähnlichkeit seitenverkehrt bzw. gegensätzlich seien. Dies gelte genauer betrachtet schon für die drei Bedingungen: „1968“ habe eine konservativ-national-bürgerliche Ordnung der Industriemoderne ihre Legitimität verloren, aktuell dagegen eine liberal-kosmopolitisch-bürgerliche der globalen Moderne; „1968“ seien die strukturell deklassierten Milieus eher solche gewesen, die sich in ihrer Aufstiegsbewegung durch die Verhältnisse gebremst gesehen hätten, im Rechtspopulismus seien es Milieus, die einen Abstieg erlebten oder befürchteten. Dies führe dazu, dass auch die Bewegungen selbst entgegengesetzt seien: links vs. rechts, optimistisch und zukunftsorientiert vs. pessimistisch und vergangenheitsbezogen, progressiv vs. rückwärtsgewandt, individualistisch vs. kollektivistisch, inklusiv-solidarisch vs. exklusiv-solidarisch, getrieben von Furcht vs. getrieben von Angst etc.

Darüber hinaus – und hier muss die Spiegelbildmetapher enden – bilden beide Protestbewegung Koppetsch zufolge auch eine zeitliche Sequenz, die somit als eine Art Pendelbewegung erscheint. Der Erfolg von „1968“ habe gerade darin bestanden, eine neue hegemoniale Ordnung zu etablieren und einigen der Milieus, die den Protest getragen hatten, den Weg in ein neues Bürgertum zu bahnen. Gegen eben diese neue Hegemonie und dieses neue Establishment richte sich nun der rechtspopulistische Protest.

Neben „1968“ und Rechtspopulismus benennt Koppetsch auch „religiös-fundamentalistische“ (45) Bewegungen im frühen und späten 20. Jahrhundert sowie am Rande die Arbeiter_innenbewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts (29) als weitere Protestbewegungen. Sachlogisch spräche wenig dagegen, den Nationalsozialismus in seiner Entstehungsphase in die Reihe der Protestbewegungen zu stellen. Angesichts der geistesgeschichtlichen (s. „konservative Revolution“ und „neue Rechte“) sowie auch organisatorischen (Netzwerke von Altnazis <–> NPD <–> Netzwerke von späteren extremen Rechten <–> AfD) Kontinuitäten und der wiederholten geschichtsrelativistischen Äußerungen aus der AfD, läge es in einem Buch über Rechtspopulismus auch durchaus nahe, auch den Nationalsozialismus als Protestbewegung von rechts zu thematisieren.

Zumindest bis 1933 könnte man auch in Bezug auf den Nationalsozialismus argumentieren, dass es sich um „mobilisierte Netzwerke von Gruppen und Organisationen“ handelte, „die über eine gewisse Dauer hinweg versuchen, ‚sozialen Wandel durch Protest herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen‘“. Die drei Bedingungen für das Entstehen einer bedeutenden Protestbewegung waren sicherlich erfüllt: Die alte Ordnung des Kaiserreiches hatte sich aufgelöst und die neue republikanische Ordnung litt unter massiven Legitimationsproblemen; ökonomische, politische und gesellschaftliche Krisen kamen hinzu. Der Nationalsozialismus wurde von einem sozialstrukturell äußerst heterogenen Bündnis von Milieus getragen, die ihre Position aufgrund von Prozessen des sozialen Wandels gefährdet sahen und die ihre Erfahrungen im gemeinsamen nationalsozialistischen Narrativ bündelten. Ebenso wenig wie heute waren die Deklassierungswahrnehmungen und Statusängste der den Nationalsozialismus stützenden Milieus rein fiktiver Natur. Wenngleich Koppetsch durchaus zu Recht die These vertritt, dass Globalisierungsdynamiken die Alltagswelt der Menschen heute so stark prägen wie nie zuvor, wurden die Alltagswelten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts durch die Dynamiken der klassischen Modernisierung (Proletarisierung, Urbanisierung usw.) sicherlich nicht weniger stark zerrissen als das heute der Fall ist. Und freilich thematisierte der Nationalsozialismus – etwa mit diversen Folgen der Großen Depression, aber auch mit anderen Modernisierungsphänomen – auch reale gesellschaftliche Problemlagen und Deklassierungserfahrungen.

Eine ernsthafte Diskussion müsste darüber hinaus freilich auch die deutlichen ideologischen und organisatorischen Unterschiede zwischen Nationalsozialismus und Rechtspopulismus ebenso benennen wie die grundsätzlich andere gesellschaftliche und politische Ausgangslage.

Dennoch hätte eine solche Thematisierung des Nationalsozialismus als rechte Protestbewegung für die Argumentation in Bezug auf das „Ernstnehmen“ die Konsequenz, dass die Entgegensetzung zwischen der moralischen Ablehnung einerseits und dem Anerkennnen „komplexerer“ Realitäten andererseits an Überzeugungskraft verlöre: Die Aussage, dass sich im Nationalsozialismus zig Millionen böse Menschen zusammenschlossen, um gemeinsam Böses zu tun, ist wahr und sie ist richtig. Aber eine angemessene sozialwissenschaftliche Analyse ist es ebenso wenig, wie es in den 1920ern und 1930ern als Gegenstrategie hingereicht hätte oder heute als geschichtspolitischer Umgang hinreichte. Auch der Nationalsozialismus war ein Phänomen, dem ein „komplexer[es]“ „Verhältnis von politischem Protest und kulturellen Bewusstseinsformen“ (252) zugrunde lag, das sich durch eine einfache moralische Disqualifizierung nicht erfassen lässt – nur besteht zwischen der Analyse des komplexen Verhältnisses und der moralischen Verurteilung kein Widerspruch.

Was ist neu an Neogemeinschaften?

Der zweite Punkt, an dem eine Erwähnung des Nationalsozialismus naheläge und Konsequenzen für die Argumentation hätte, ist Koppetschs Diskussion rechtspopulistischer „Neogemeinschaften“. Mit diesem Begriff diskutiert sie (ebenso wie zwei Jahre zuvor Andreas Reckwitz in Gesellschaft der Singularitäten) Formen der Vergemeinschaftung, die sich zwar oft durch eine essenzialistische Berufung auf Tradition auszeichnen, aber ganz und gar nicht traditional sind. Koppetsch parallelisiert rechtspopulistischen Neogemeinschaften wiederum mit fundamentalistisch-religiösen Gemeinschaften, aber auch mit anderen (Ethno-)Nationalismen sowie „identitätspolitischen“ Communities insbesondere in den USA. Als Kontrastfolie dienen ihr dagegen politisierte Arbeiterkulturen der Industriemoderne, die zwar Gemeinschaften, aber gerade keine Neogemeinschaften gewesen seien.

Bezieht man den Nationalsozialismus in die Diskussion der Neogemeinschaften ein, wird deutlich, dass der Begriff entweder anders definiert werden müsste oder zeitlich gerade nicht auf die Epoche der globalen Moderne, also die letzten Jahrzehnte, eingrenzbar ist.[1] Dies lege ich im Folgenden dar, indem ich Koppetschs zentrale Aussagen über Neogemeinschaften auf den Nationalsozialismus beziehe.

„Oftmals wird davon ausgegangen, dass derartige Communities lediglich vormoderne Alltagskulturen aus traditionalen Gesellschaften reaktivierten. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch um moderne politische Bewegungen, die in Reaktion auf liberale Gesellschaftsordnungen und den modernen Individualismus entstanden sind. Sie profilieren sich gegen einen erlebten Mangel an Ordnung und den Relativismus als fixe Größen, wobei sie selektiv auf Traditionsbestände zugreifen und diese zugleich neu erfinden“ (163)

Dies trifft auch auf nationalsozialistische Vergemeinschaftung zu, die keine Rückkehr zu einer realen vormodernen Vergangenheit vollzog, sondern eine spezifisch moderne Form war, mit der spezifisch moderne Erfahrungen durch die vermeintliche „Rückbesinnung“ auf eine imaginäre Vergangenheit verarbeitet wurden. Und mit diesem imaginären Charkter des Vergangenheitsbezuges stand der Nationalsozialismus auch nicht allein da: „invention of tradition“ und „imagined communities“ (letztere zitiert Koppetsch selbst), sind fast schon Klischees der Nationalismusforschung und werden auch für das 19. Jahrhundert beschrieben.

„Für das Subjekt erfüllen Neogemeinschaften nicht nur Entlastungs-, sondern auch Solidaritäts- und Vergemeinschaftungsfunktionen. Insofern können diese als kommunitäre Gegenreaktionen zu den oben beschriebenen Individualisierungstendenzen der globalen Moderne betrachtet werden. Sie bringen Gemeinschaften hervor, die dem individualistischen Regime der transnationalen Markt- und Selbstverwirklichungskultur diametral entgegengesetzt sind.“ (163)

…genau wie der Nationalsozialismus es mit der Volksgemeinschaftsideologie für die Industriemoderne und ihre entstehende Massenkultur tat.

 „Aus der Sicht der Neogemeinschaften ist Kultur […] gleichsam ›heilig‹, sie wird zur unverbrüchlichen Grundlage und zum Garanten religiöser, nationaler oder ethnischer Identitäten, welche die Errungenschaften der jeweiligen Wir-Gruppe – der Nation, des Volkes, des Christentums etc. – gegenüber Außenseitern verteidigen sollen. Dieser Prozess der Zuweisung von fixen Werten ist darauf ausgerichtet, die Eindeutigkeit der identitätsstiftenden Symbole zu bewahren.“ (164)

…genau wie es im Nationalsozialismus auch der Fall war, nur dass die fiktive, vermeintlich uralte Gemeinschaft dort zusätzlich noch biologisch als Rasse gedacht wurde – was nicht heißt, dass die Berufung auf Kultur und Volk nebensächlich gewesen wäre.

„Aus der Sicht der klassischen Modernisierungstheorie dürfte es diese Tendenzen gar nicht geben. Darin gelten kollektive Identitäten als Kennzeichen traditionaler Gesellschaften, die in der Moderne über kurz oder lang verschwinden würden. Für die Epoche der Industriemoderne war dieser Erwartungshorizont tatsächlich auch prägend gewesen, konnte allerdings nur so lange aufrechterhalten werden, wie sich die Gesellschaftsordnung noch selbstverständlich aus dem Reservoir traditioneller Bindungen und Ligaturen bediente. Bindungen an Region, Milieu und Geschlecht grundierten das Selbstgefühl bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Industriemoderne war so gesehen nie ›modern‹ gewesen.“ (164)

Auch den Nationalsozialismus hätte es aus Sicht von Modernisierungstheorien, die eine zunehmende Individualisierung und Rationalisierung behaupten, gar nicht geben dürfen – nicht zuletzt deshalb wurde Die Dialektik der Aufklärung geschrieben. Auch wenn „vormoderne“ Traditionsbestände im Laufe des 20. Jahrhunderts immer weiter abgeschmolzen sind und durch moderne Konventionen sowie postkonventionelle Beziehungen ersetzt wurden, kann der imaginäre Charakter der Vergemeinschaftung keine Differenz zwischen gegenwärtigen Neogemeinschaften und industriemodernen Vergemeinschaftungsformen wie der nationalsozialistischen markieren. Deren romantische Imaginationen waren von den realen „deutschen“ Vergangenheiten sehr viel weiter entfernt als die rechtspopulistische Imagination der guten alten Industriemoderne von den Realitäten der Bonner Republik. Ähnlich könnte man auch in Hinblick auf salafistische Neogemeinschaften (167) argumentieren, dass deren Bezugnahme auf Tradition gewissermaßen „authentischer“ ist, als die des Nationalsozialismus war. Schließlich können sich Salafist_innen nicht nur auf ihre (zweifelsohne moderne und politisch interessierte, aber doch real textbasierte) Interpretation der Tradition von Koran und Sunna berufen, sondern auch auf in mancher Hinsicht ähnliche politisierte „Rückkehrbewegungen“ vergangener, vormoderner Jahrhunderte (Ibn Tamiyya, Ibn Wahhab).

Auch weitere Züge, die Koppetsch als Charakteristika von Neogemeinschaften im Allgemeinen oder rechtspopulistischen Neogemeinschaften im Besonderen benennt, lassen sich am Nationalsozialismus finden. Auch dieser erhob den Anspruch, „dem sozial verwaisten Subjekt wieder einen moralischen Kompass, solidarische Bindungen und einen Gegenentwurf zur individualisierten Lebensführung mit ihren spezifischen Problemlagen bieten zu können“ (165). Auch dieser dachte das Volk als kulturell und sozial (und zusätzlich biologisch) homogene Einheit (165). Auch dieser glaubte an einen Nationalcharakter und an eine Mehrheit des Volkes, die gegen korrupte Eliten und äußere Andere abgegrenzt wurde (165-166). Auch er war eher eine politische denn eine auf gemeinsamen Lebenswelten fußende Gemeinschaft (167). Auch hier wurde (wie in fast jedem Nationalismus) „Kultur nicht selbstverständlich tradiert, sondern [musste] zum Gegenstand expliziter Diskursivierung und Thematisierung gemacht“ (167) werden, die notwendig mit Unschärfen verbunden war.

An einigen Punkten von Koppetschs Beschreibung rechtspopulistischer Neogemeinschaften ist es geradezu verwunderlich, warum sie nicht auf die nationalsozialistische Vergangenheit eingeht. So lesen sich die folgenden Zeilen wie eine Paraphrase von Carl Schmitts Theorie der Demokratie:

„In Kapitel 1 wurde gezeigt, dass der Rechtspopulismus ein grundsätzlich anderes Modell der Gesellschaft will. Aus der Analyse der Neogemeinschaften wird nun das grundsätzlich andere Modell des Politischen deutlich, das die Rechtspopulisten vertreten. Dieses beansprucht für sich, ‚den Volkswillen‘ unmittelbar in politische Praxis umzusetzen, und setzt die Wünschbarkeit einer Identität zwischen Regierenden und Regierten voraus. Darin ist ein Demokratiemodell unterstellt, das der Pluralität und Repräsentation den Rücken zukehrt. Unterstellt wird ein kollektives Interesse des Volkes, das unmittelbar in politisches Handeln umsetzbar ist. Dieser Antipluralismus formt auch das Verständnis der Aufgabe der Regierung. Die Anführer und Parteispitzen des Rechtspopulismus sehen sich in diesem Sinne nicht als Repräsentanten, sondern als Teil des Volkes, als Spitze einer Bewegung.“ (168)

Das einzige von Koppetsch als zentral beschriebene Charakteristikum gegenwärtiger Neogemeinschaften, das sich am Nationalsozialismus nicht finden lässt, ist die zweifellos neue virtuelle Vernetzung durch Onlinekultur. Diese Differenz ist nicht bloß technischer Natur, sondern hat Konsequenzen für die sozialen Interaktionen und die politischen Formen. Aber selbst wenn man ihre Folgen für den Charakter der Vergemeinschaftung für so grundlegend hielte, dass man diese kategorisch von vergangenen Formen unterscheidet, bleibt doch festzuhalten, dass der Nationalsozialismus die allermeisten der Eigenschaften aufweist, die Koppetsch als charakteristisch für Neogemeinschaften beschreibt.

Ungewissheit und Politik

Es geht mir an dieser Stelle nicht darum, eine Identität von Rechtspopulismus und Nationalsozialismus zu behaupten – diese besteht nicht. Es geht mir vor allem darum zu zeigen, dass Koppetschs weitgehende Aussparung von Nationalsozialismus und Rechtsextremismus sachlogisch mindestens kontingent ist, weil vieles von dem, was sie als charakteristisch für den Rechtspopulismus beschreibt, auch auf den werdenden Nationalsozialismus zutraf. Beide sind nicht identisch, aber sie stammen auch nicht aus unterschiedlichen Welten. Dies hat zwei Implikationen.

Erstens bedeutet es, dass man mit Äußerungen in Bezug auf die Zukunft vorsichtig sein sollte. Ich stimme Koppetsch (232) darin zu, dass eine rechts-revolutionäre Dynamik in der nahen Zukunft als ausgesprochen unwahrscheinlich erscheint. Jedoch darf man dabei nicht vergessen, dass die allermeisten Sozialwissenschaftler_innen Ungarn und Polen vor 10 Jahren mit großer Überzeugtheit als konsolidierte Demokratien gesehen hätten, die nicht zuletzt durch ihre Einbindung in europäische Institutionen gegen ein Zurückgleiten in Autoritarismen abgesichert sind. Ebenso wären diese Sozialwissenschaftler_innen nicht um gute Gründe verlegen gewesen, aus es überhaupt nicht zum Brexit kommen kann und es ganz und gar ausgeschlossen ist, dass ein Donald Trump Präsident wird geschweige denn die Startseite der New York Times 2019 so aussieht. Mit den Worten von Adorno und Horkheimer aus eine Fragment in der Dialektik der Aufklärung:

„Zu den Lehren der Hitlerzeit gehört die von der Dummheit des Gescheitseins. Aus wievielen sachverständigen Gründen haben ihm die Juden noch die Chancen des Aufstiegs bestritten, als dieser so klar war wie der Tag. Mir ist ein Gespräch in Erinnerung, in welchem ein Nationalökonom aus den Interessen der bayrischen Bierbrauer die Unmöglichkeit der Uniformierung Deutschlands bewies. Dann sollte nach den Gescheiten der Faschismus im Westen unmöglich sein. Die Gescheiten haben es den Barbaren überall leicht gemacht, weil sie so dumm sind. Es sind die orientierten, weitblickenden Urteile, die auf Statistik und Erfahrung beruhenden Prognosen, die Feststellungen, die damit beginnen ‚Schließlich muß ich mich hier auskennen‘, es sind die abschließenden und soliden statements, die unwahr sind.“

Die zweite Implikation ist, dass die Wähler_innen rechtspopulistischer Parteien durch einen Verweis auf die Komplexität der Dynamik von Protest und Politik nicht gegen den (zweifellos moralisch schwerwiegenden) Vorwurf der aktiven Unterstützung für die extreme Rechte in Schutz genommen werden können – auch dann nicht, wenn sie sich selbst entschieden in der gesellschaftlichen und politischen „Mitte“ verorten. Wie Claus Leggewie im eingangs genannten Beitrag darlegte, ist der Wähler kein sakrosanktes Wesen. Wie Hajo Funke im eingangs genannten offenen Brief darlegt, ist jede Stimme für die AfD bei den drei anstehenden Landtagswahlen im Herbst 2019 eine Stimme für extrem Rechte Kandidat_innen. Allen, die sich nicht gezielt gegen dieses Wissen wehren, müsste das bewusst sein. Das politisch ernst zu nehmen steht in keinem Widerspruch dazu, die Komplexität dr den rechtspopulistischen Erfolgen zugrundeliegenden Dynamiken anzuerkennen und (auch strategisch) zu reflektieren.

Im abschließenden Teil VI diskutiere ich nächste Woche die Frage, welche empirische Forschung nötig wäre, um die in Gesellschaft des Zorns formulierten Thesen zu untermauern bzw. zu prüfen.


[1] Das verdeutlichen genauer betrachtet auch schon die „religiös-fundamentalistischen“ Gemeinschaften. Schließlich bezieht sich Koppetsch primär auf Martin Riesebrodts Studie Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung, die auf Untersuchungen des protestantischen Fundamentalismus in den USA der 1910er und 1920er sowie des schiitischen Islamismus im Iran der 1960er und 1970er beruht.

2 Gedanken zu „Was heißt „die Wähler_innen der Rechten ernst nehmen“? Teil V einer Kritik an Cornelia Koppetschs Gesellschaft des Zorns“

  1. Soziologie oder Ideologie??

    „Die Aussage, dass sich im Nationalsozialismus zig Millionen böse Menschen zusammenschlossen, um gemeinsam Böses zu tun, ist wahr und sie ist richtig.“

    Währendes des Nationalsozialismus gab es mehr Soziologen, fasziniert von der Volksgemeinschaft, als während der Weimarer Republik!
    Von der Traumatisierung durch diese VolksGEMEINSCHAFT hat sich die Soziologie bis heute nicht erholt. Eine erfolgreiche Therapie der PTBS, die die linke und die rechte Gehirnhälfte wieder realistisch „vereint“ (s.a. Kurt Gödel / Unvollständigkeitstheoreme), steht noch aus.
     
    „Wie Hajo Funke im eingangs genannten offenen Brief darlegt, ist jede Stimme für die AfD bei den drei anstehenden Landtagswahlen im Herbst 2019 eine Stimme für extrem Rechte Kandidat_innen. Allen, die sich nicht gezielt gegen dieses Wissen wehren, müsste das bewusst sein. Das politisch ernst zu nehmen steht in keinem Widerspruch dazu, die Komplexität dr den rechtspopulistischen Erfolgen zugrundeliegenden Dynamiken anzuerkennen und (auch strategisch) zu reflektieren.“

    Eine Ideologie ist u.a. dadurch gekennzeichnet, dass ihre Selbstverständlichkeiten innerhalb der emotional-ideologischen Komfortzone im Normalfall nicht mehr hinterfragt werden KÖNNEN.

    Die Soziologie als Wissenschaft wäre eine Wissenschaft der Ideologien, z.B. des Liberalismus, des Sozialismus und des Faschismus. Sie würde die rationalen Dimensionen dieser Ideologien, ihre Einseitigkeiten und ihre Relativierungen in Bezug auf historisch umfassendere, mögliche Ideologien (kontrafaktisch/kausale Inferenz) begreifen, um sich der objektiven Wahrheit und Realität dieser abstrakten Realitäten und Strukturen und ihrer Wirkung anzunähern.

    Von dieser realistischen Möglichkeit und Notwendigkeit ist die aktuelle, sozialkonstruktivistisch dominierte, akademische Soziologie mit ihrem Textfetischismus offensichtlich Lichtjahre entfernt (https://www.cuncti.net/wissenschaft/232-das-geschwafel-der-geisteswissenschaftler).

    In die emotional-ideologische Komfortzone der akademischen Soziologie mit Argumenten einzudringen, ist so erfolgversprechend wie der Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln. Ein weiteres, signifikantes Kriterium für eine ideologische Bastion.

    Der Begriff der „Neogemeinschaften“ ist in diesem Zusammenhang eine putzige konstruktivistisch-postmoderne Karikatur eines sozialen Naturgesetzes, dem der soziale, symbolisch gesteuerte Affe „Mensch“ und seine emotional-ideologischen Komfortzonen (https://bds-soz.de/wp-content/uploads/2016/06/SOZIOLOGIEHEUTE_AUGUSTausgabe2016_LSchwartz.pdf) unterliegen.

    Der Evolutionsbiologe Robert Sapolsky (Stanford) drückt das so aus:
    „Wir Menschen sind dazu fähig, einander aus ideologischen, theologischen oder wirtschaftlichen Gründen zu töten. Auf der anderen Seite sind wir altruistischer als alle anderen Lebewesen auf der Erde. Wir können Mitleid mit einem dreijährigen Flüchtlingsjungen empfinden, der tausende Kilometer entfernt tot am Strand liegt. Diese Extreme sind für mich das größte Rätsel: warum dasselbe Individuum mal furchtbar gewalttätig, dann aber voller Mitgefühl handeln kann.
    ….
    Zwar macht uns Oxytocyn (ein Hormon, G.Sch.) großzügiger und altruistischer- aber leider NUR BEI MENSCHEN, DIE ZU UNSEREM SOZIALVERBUND GEHÖREN (Hervorh. G.Sch.). Fremden gegenüber macht es hundsgemein und feindselig.“
    (Sapolsky, R. : „Kein Pavian würde sich wie Trump benehmen“ im Stern vom 5.10.17, S. 111).

    Das Rätsel Sapolskys kann sozialrealistisch-soziologisch gelöst werden, wenn man „Macht/Gewalt“ als konstitutiv für menschliche Sozialität zu Ende denkt : (https://soziologiedesunbewussten.blogspot.com/2019/02/macht.html).

    E. O.Wilson beschreibt in seinem Buch „Die soziale Eroberung der Erde“ eindrucksvoll den unvermeidbaren Prozess der Ideologisierung von Individuen: https://soziologiedesunbewussten.blogspot.com/2019/08/der-soziale-kampf-um-die-macht.html.

    Ein Gespräch über emotional-ideologische Grenzen hinweg ist fast unmöglich, aber notwendig, wenn es um die Wissenschaft sozialer, a-rationaler Prozesse gehen soll.

    Ansätze dafür gibt es genug, sie müssen nur realistisch verarbeitet werden, jenseits der Pluralismus- und Komplexitätsideologie der Zeitgeist-Soziologie: https://soziologiedesunbewussten.blogspot.com/2019/05/die-schrei-und-schweigespirale.html.

Kommentare sind geschlossen.